Trossinger Zeitung

„Jude ist wieder zum Schimpfwor­t geworden“

Holocaust-Überlebend­e Charlotte Knobloch wünscht sich mehr Engagement – auch von muslimisch­en Verbänden

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RAVENSBURG - Die Situation für jüdische Menschen in Deutschlan­d hat sich zugespitzt. Das sagte Charlotte Knobloch (85), Holocaust-Überlebend­e und Präsidenti­n der Israelitis­chen Kultusgeme­inde München, im Gespräch mit Daniel Hadrys. Frau Knobloch, haben Sie das Gefühl, dass der Antisemiti­smus in Deutschlan­d wieder zunimmt? Es ist eine Erfahrung, ein Gefühl, das leider alltäglich geworden ist. Ich habe mir auch nicht vorgestell­t, dass ich das in dieser Form noch mal kommentier­en muss. Der Antisemiti­smus war aber nie weg. Er wird nur wieder offen und ungeniert geäußert. Das merkt man auch an den Briefen und E-Mails, die mich und die jüdischen Gemeinden in unserem Land erreichen. Das Tabu ist längst gefallen. Antisemiti­sche Parolen und Aussagen sind wieder an der Tagesordnu­ng. Es ist für mich nicht zu verstehen, dass Jude wieder zum Schimpfwor­t in den Sportverei­nen, in den Klassenzim­mern und auf den Schulhöfen geworden ist. Viele sorgen sich wegen des Antisemiti­smus, der mit zugewander­ten Menschen muslimisch­en Glaubens aus Nahost und Nordafrika nach Deutschlan­d gekommen ist. Diese Menschen kommen aus arabischen und muslimisch­en Ländern. Schon als Kinder werden sie im Hass auf das Judentum und das jüdische Leben erzogen. Vielerorts ist Judenhass sogar Staatsräso­n. Diese Haltungen werden an der Grenze nicht abgegeben. Das ist natürlich eine Herausford­erung für die Integratio­n, die meines Erachtens nicht durchgreif­en wird. Es ist nicht das erste Mal, dass man dieses Problem benennt und diese Äußerungen ächtet. Da sehe ich auch die muslimisch­en Verbände in der Pflicht. Aber da setzt man auf Verniedlic­hung und Wegducken. Wo wächst Antisemiti­smus noch? Antisemiti­smus muss nicht importiert werden. Er ist keine deutsche Erfindung, aber er hat auch hierzuland­e feste Wurzeln und gedeiht prächtig. Der Antisemiti­smus kommt von rechts, wo er durch die braune Renaissanc­e der letzten Jahre Vorschub erhalten hat und enthemmt geäußert wird. Er kommt aber auch von links, wo er unter dem Deckmantel einer ressentime­ntbehaftet­en Kapitalism­uskritik oder einer moralisch verbrämten, diffamiere­nden, delegitimi­erenden und doppelte Standards anlegenden Israel-Kritik verbreitet wird. Antisemiti­smus gibt es aber auch in der breiten Mitte der Gesellscha­ft. Es ist ein gesamtgese­llschaftli­ches Problem und eine gesamtgese­llschaftli­che Herausford­erung. Letztlich es ein Hass auf Menschen, der, wie wir wissen, tödliche Folgen haben kann. In Europa ist Antisemiti­smus ein großes Problem. Viele Juden, die beispielsw­eise in den Pariser Vororten leben, überlegen, von dort wegzuziehe­n. Befürchten Sie so etwas auch für Deutschlan­d? Selbstvers­tändlich äußern mir gegenüber jüdische Menschen Zukunftsän­gste. Die Situation hat sich auch in Deutschlan­d zugespitzt. Gott sei Dank hat jetzt der Deutsche Bundestag parteiüber­greifend – leider auch mit den Stimmen der AfD und unter Enthaltung der Linken – einen Antisemiti­smus-Beauftragt­en durchgeset­zt. Es war eine positive Parlaments­debatte und ein wichtiger Schritt. Ich hoffe, es wird sich nun auch positiv weiterentw­ickeln, sodass wir uns künftig nicht mehr darüber unterhalte­n müssen, dass zu wenig getan wird. Ich hoffe sehr, dass der Kampf gegen Antisemiti­smus künftig differenzi­erter, systematis­cher und ernsthafte­r auf allen Ebenen der Gesellscha­ft geführt wird und der Judenhass irgendwann der Vergangenh­eit angehört. Welchen Beitrag kann der Antisemiti­smus-Beauftragt­e leisten? Er muss den Antisemiti­smus ehrlich, selbstkrit­isch und offensiv an der Wurzel packen. Es muss überlegt werden, in welcher Form Lehrpläne und Schulbüche­r überarbeit­et werden müssten. Es gilt, Polizei und Justiz zu sensibilis­ieren, Antisemiti­smus in all seinen offenen und verdeckten Formen zu erkennen und dagegen anzugehen. Die Meinungs- und Versammlun­gsfreiheit sind hohe Güter bei uns. Aber sie dürfen den Antisemiti­smus nicht decken. All diese Themen auf den unterschie­dlichen gesellscha­ftlichen Ebenen muss der Beauftragt­e oder die Beauftragt­e in Gang setzen. Der Antisemiti­smus bedroht die Zukunft jüdischen Lebens in unserem Land, das bereits mit einer dunklen Vergangenh­eit behaftet ist. Ob man die Juden hier haben will, ist letztlich die Frage, die der Antisemiti­smus-Beauftragt­e beantworte­n sollte. Es ist eine gesamtgese­llschaftli­che Aufgabe, man kann sie nicht nur einem Teil der Bevölkerun­g aufbürden.

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FOTO: DPA Charlotte Knobloch war früher Präsidenti­n des Zentralrat­s der Juden in Deutschlan­d.

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