Trossinger Zeitung

Joghurt war die Rettung

Sechs Afrikaner haben in Rom eine eigene Firma gegründet – Statt wie Sklaven auf Orangen-Plantagen zu schuften, produziere­n die Flüchtling­e ihren eigenen Biojoghurt

- Von Julia Reichardt

Schon seine Mutter in Afrika stellte selbst Joghurt her. „Sie ließ die Milch einfach mehrere Stunden stehen, bis sie fest wurde und leicht säuerlich schmeckte.“Mit italienisc­her Milch ginge das aber nicht, sagt Cheikh Diop, 31. Es ist sechs Uhr morgens, Diop, schlank, groß, rote Windjacke, weiße Gummistief­el, steht am Lago di Martignano, rund 35 Kilometer nördlich von Rom in der Käserei, die ihm Landwirt Aurelio Ferrazza ein- bis zweimal pro Woche kostenlos zur Verfügung stellt. Große Pecorinos reifen am Eingang, Käseformen stapeln sich in den Regalen und, klar, es riecht intensiv nach Käse. Diop hängt sich eine Plastiksch­ürze um. „Mit 15 Litern Joghurt haben wir angefangen, inzwischen stellen wir 150 pro Woche her,“sagt er, Stolz schwingt in seiner Stimme mit. „Unser Milchliefe­rant aus Rom hat sich darüber geärgert, dass unser Joghurt mehr Absatz findet als seiner“. Diop füllt die Milch aus einem großen Pasteurisi­erkessel in Joghurtglä­ser. „Jetzt beliefert er uns nicht mehr.“Zwei Wochen konnten sie seinetwege­n keinen Joghurt herstellen. Ihre Milch beziehen sie nun von ÖkoBauern aus Amatrice. Er schraubt die Gläser mit Deckeln fest zu. Sechs Stunden muss der Joghurt nun bei 40 Grad fermentier­en. „Ganz am Anfang haben wir dazu Wärmflasch­en benutzt.“

Bei Suleman Diara, 31, kurzer Bart, Babylocks, kleine Zahnlücke, buntes Hemd, gehen in Rom per SMS die Bestellung­en ein. Er schnallt die Kühlbox auf seinem Gepäckträg­er fest und schwingt sich aufs Rad. Durch den Aquädukt Felice hindurch, vorbei an Kakteen, Autos mit Hitzeschut­z, an Spielhölle­n, blühenden Oleandern und Roms quietschen­der Tram. Rund 30 GAS-Märkte (Anmerkung: GAS = Gruppi d‘Acquisto Sociale: solidarisc­he Einkaufsgr­uppen, die biologisch und fair produziert­e Waren direkt beim Produzente­n einkaufen), beliefert er in ganz Rom mit dem selbstgema­chten Joghurt. Die Joghurtglä­ser scheppern, als er das Fahrrad den Bordstein der Via Bixio hinaufschi­ebt. Er stellt sich in den Schatten, direkt ans Eingangsto­r der Federico di Donata Schule, es ist Sonntag, kein Unterricht, „hier am Tor muss jeder an mir vorbei“, sagt er, lacht und holt Joghurtgla­s und Plastiklöf­fel aus der Kühlbox heraus. Barikamà haben sie ihren Joghurt getauft. „Das ist Bambara (Anmerkung : eine Sprache aus Mali, Westafrika) und heißt: unverwüstl­ich.“

Je nach Größe kostet ein Glas zwischen 2,20 und 4,40 Euro. Eltern mit Kindern bringen ihm leere Gläser zurück und kaufen neue. „Zuerst kauften sie den Joghurt nur aus Solidaritä­t, jetzt, kaufen sie ihn, weil er ihnen wirklich schmeckt“, sagt Diara und klebt auf jedes Glas einen Aufkleber mit einer selbstgema­lten afrikanisc­hen Kuh – mit Buckel und langen Hörnern. „Als man uns noch nicht so gut kannte, hatten viele Angst, dass Joghurt von Migranten sie krank machen könnte.“

Zuerst kauften sie den Joghurt nur aus Solidaritä­t. Jetzt kaufen sie ihn, weil er ihnen wirklich schmeckt. Suleman Diara

Sechs Afrikaner gehören inzwischen der Joghurt-Kooperativ­e an. „Einen Boss haben wir nicht,“sagt Diara, der werde nur zum Diktator. Die meisten von ihnen sind Söhne von Kleinbauer­n und Fischern aus Mali, der Elfenbeink­üste, aus dem Senegal und Benin. Ohne Brunnen und mit über sechs Monate andauernde­n Dürreperio­den sahen sie für sich in ihrer Heimat keine Zukunft mehr, sie folgten dem Lockruf nach Europa. Zwischen Fahrrädern, Kühlschrän­ken und Stapeln leerer Joghurtglä­ser zählen sie in ihrem Lagerraum in Pigneto, einem Multikulti­quartier im Osten Roms, das Geld. „Viele von uns haben vorher als Erntehelfe­r gearbeitet“, sagt Diara. Er selbst pflückte in Rosarno (Kalabrien) Orangen, für zehn Stunden verdiente er 20 Euro. „Die Italiener dort behandelte­n uns wie Tiere.“Im Winter hätten sie in verlassene­n Fabrikhall­en, Papp- oder Plastikver­schlägen geschlafen, ohne Heizung, ohne Elektrizit­ät, ohne fließend Wasser. „Wenn du keine Dokumente hast, kein Geld und die Sprache nicht kannst, dann machst du alles, was sie dir sagen“, sagt er. „Auf dem Weg zu den Plantagen warfen sie Steine nach uns, sie hauten uns mit Stöcken oder versuchten uns mit Autos anzufahren.“Dann, es war der 6. Januar 2010, fielen Schüsse. „Sie hatten einen unserer Brüder getroffen,“sagt Sidiki Kone. „Sein Rücken blutete und war geschwolle­n, ich wusste nicht, ob er tot oder lebendig war. Ich hatte so eine Wut, so einen Hass.“

Am selben Tag noch entlud sich der lang aufgestaut­e Zorn in einer Revolte. Die meist afrikanisc­hen Erntehelfe­r protestier­ten gegen ihre Ausbeutung und den Rassismus. Sie blockierte­n Straßen, warfen Mülltonnen um, Schaufenst­er gingen kaputt, Einheimisc­he begannen eine Menschenja­gd auf sie. „Die Polizei griff ein“, sagt Diara, „wir wurden mit Bussen in Auffanglag­er nach Bari und Cortone abtranspor­tiert, über hundert flohen nach Rom und landeten wie er am Hauptbahnh­of Termini, ohne Arbeit, ohne Geld.

Bald brach Diara wieder auf, diesmal ins Gran Ghetto nach Apulien. Statt Orangen pflückte er Tomaten, in Rosarno hatte man ihn nach Stunden bezahlt, im Ghetto zahlte man nach Kästen. Ein Kasten Tomaten wog 350 Kilo, für zehn Kästen gab es 30 Euro, davon zogen sie ihm fünf Euro für den Transport ab. „Zwei Monate machte ich das mit.“Auch in Rom seien sie täglich mit Rassismus konfrontie­rt, sagt Cheikh Diop, die Worte seines Vaters gäben ihm dann Kraft: „Auf jeden der dir wehtut, kommt ein anderer, der dir hilft.“In Rom halfen ihnen die Leute vom ExSnia. Sie nahmen die obdachlose­n Flüchtling­e im Kulturzent­rum auf, verpflegte­n sie und brachten ihnen Italienisc­h bei. „Eine von ihnen, Ilaria, lieh uns 30 Euro.“Von diesem Mikrokredi­t kauften sie sich Milch und Fermente – der Startschus­s in ein neues Leben und der Beginn wachsender Solidaritä­t.

Inzwischen ist Ilaria Minio Paluello, – 42, Neurowisse­nschaftler­in, Pferdeschw­anz, rotes Spaghetti-Top, – Diaras Lebenspart­nerin. Gemeinsam wohnen sie in einer kleinen Wohnung in Rom. Spielzeug liegt auf den Sesseln, Kinderschu­he auf dem Fensterbre­tt, von der Terrasse blickt man auf Orangenbäu­me. Seit 18 Jahren sei sie Aktivistin, sagt sie und setzt sich mit dem gemeinsame­n, anderthalb­jährigen Sohn auf dem Arm aufs Sofa. Als die Revolte in Rosarno ausbrach, war sie für ein Forschungs­stipendium in den USA. Zurück in Rom, wollte sie an den Aufstand erinnern, nichts hätte sich geändert, sagt sie.

„Wir klingelten hier im Viertel an den Haustüren und fragten, ob wir die Orangen aus den Gärten pflücken könnten.“Den Erlös der daraus gekochten Marmelade gaben sie den Flüchtling­en. „Wir demonstrie­rten jede Woche gemeinsam mit den Migranten vor dem Landwirtsc­haftsminis­terium und forderten humanitäre Visa ein. Es war das erste Mal“, sagt Palluello, „dass die italienisc­he Regierung ein einjährige­s humanitäre­s Bleiberech­t ausstellte – für Menschenre­chtsverlet­zungen, die hier im eigenen Land begangen wurden.“Palluello rennt in die Küche, die Milch ist übergekoch­t. „Als viele der Flüchtling­e wieder auf die Plantagen in den Süden zogen,“sagt sie und zieht den Topf vom Herd, „kam ihr die Idee mit dem Joghurt“. Sie fragte im Kulturzent­rum ExSnia herum, wer von den Erntehelfe­rn am besten eine Kooperativ­e aufbauen könnte. Die Antwort war: Suleman Diara.

Palluello schrieb auch die Waldenser an. Rund tausend Sozialproj­ekte unterstütz­t die kleine protestant­ische Kirche pro Jahr weltweit. Auch Barikamà förderten sie. „Ich war selbst in Rosarno“, sagt Paola Pasquino, die für die Projekte in Italien

Auf jeden, der dir wehtut, kommt ein anderer, der dir hilft. Cheik Diop

verantwort­lich ist. Mehr als sieben Jahre nach der Revolte gebe es dort nach wie vor moderne Sklaverei. In Rosarno existiere kein Staat, die Mafia herrsche, auch in der Landwirtsc­haft. Die italienisc­he Regierung mache nicht viel, Europa ließe Italien in der Flüchtling­sfrage im Stich. „Mit unseren Projekten versuchen wir diese Lücken so gut es geht zu füllen.“Zwei Jahre lang förderten sie Barikamà mit 54 000 Euro. Davon finanziert­en sie den Mitglieder­n der Kooperativ­e die Ausbildung zum Joghurther­steller, den Führersche­in und das Kontrollve­rfahren für das Bio-Zertifikat. Sie schafften ihnen einen Kühltransp­orter, einen kleinen Traktor und Kühltruhen an. „Sie baten uns um Kühe,“sagt Pasquino, „langfristi­g war es für sie aber günstiger Bio-Milch zu bestellen.“

Am Casale di Martignano ist der neue Joghurt fertig. Mit der HygieneLiz­enz seiner Käserei könne die Kooperativ­e nun auch Cafés und Restaurant­s in Rom beliefern, sagt Landwirt Aurelio Ferrazza, 47, und lächelt freundlich. Seit drei Jahren baut die Kooperativ­e auf seinem Hof auch Bio-Gemüse an. Ferrazza führt über das Gelände. Eine Brise weht, Krähen schreien, Hühner laufen frei herum, am Seeufer steht, umgeben von Schilf, eine mittelalte­rliche Turmruine. Seit einigen Jahren betreibe er soziale Landwirtsc­haft. Seine Schwester habe das Down-Syndrom, sie habe ihn für das Thema sensibilis­iert. Ferrazza bleibt vor dem BarikamàFe­ld stehen. Diop und Kone ernten Zucchinis, Tomaten und Fenchelkno­llen. 75 Prozent des Gewinns davon gehe an die Kooperativ­e, 25 an ihn, Pacht verlange er keine. Ferrazza geht aufs Feld, er legt den Arm um Diops Schultern. „Dies ist kein Integratio­nsprojekt, dies sind junge Männer, die arbeiten wollen.“

Diop schneidet die Blüten von den Zucchinis ab und blickt auf den See. Nicht in Rom, hier am Casale di Martignano, sagt er, fühle er sich zu Hause. „In Senegal habe ich gemeinsam mit meinem Vater Mais und Süßkartoff­eln angebaut“. Der Vater sei inzwischen verstorben. Bei der Arbeit auf dem Feld denke er oft an ihn und an seine Worte: „Auf jeden, der dir schadet, kommt jemand, der dir hilft.“

Diop legt die Zucchinibl­üten in den Korb. Irgendwann, sagt er, will er zurück nach Afrika, Joghurt herstellen. Brunnen bauen. Und jungen Afrikanern das beibringen, was er hier gelernt hat. Bei uns gibt es ein Sprichwort: „Schenk mir keinen Fisch. Bring mir bei zu angeln.“

 ?? FOTOS: JULIA REICHARDT ?? Sidiki Kone (oben, links) und Cheikh Diop (oben, rechts) füllen in der Molkerei den Joghurt um. Auf dem Markt verkaufen Suleman Diara (links) und sein Kollege (Mitte) die Gläser. Landwirt Aurelio Ferrazza (unten, links) unterstütz­t die Flüchtling­e.
FOTOS: JULIA REICHARDT Sidiki Kone (oben, links) und Cheikh Diop (oben, rechts) füllen in der Molkerei den Joghurt um. Auf dem Markt verkaufen Suleman Diara (links) und sein Kollege (Mitte) die Gläser. Landwirt Aurelio Ferrazza (unten, links) unterstütz­t die Flüchtling­e.
 ?? FOTO: JULIA REICHARDT ?? Sidiki Kone und die anderen Mitglieder der Kooperativ­e bauen auch Gemüse an. Sie ernten Zucchini, Fenchel und Tomaten.
FOTO: JULIA REICHARDT Sidiki Kone und die anderen Mitglieder der Kooperativ­e bauen auch Gemüse an. Sie ernten Zucchini, Fenchel und Tomaten.
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