Trossinger Zeitung

Der alltäglich­e Wahnsinn der Liebe

Ein außergewöh­nlicher Theaterabe­nd: „Hotel Strindberg“am Wiener Burgtheate­r

- Von Jürgen Berger

WIEN - Simon Stone ist 35, wird demnächst wohl nach Hollywood ins Filmgeschä­ft wechseln und überträgt Stücke der klassische­n Moderne in die Gegenwart. Zuletzt hat er das in Basel mit Tschechows „Drei Schwestern“gemacht und wurde mit seiner Neudeutung zum Berliner Theatertre­ffen eingeladen. Jetzt hat er in einer Koprodukti­on des Wiener Burgtheate­rs und des Theaters Basel aus dem Werk des psychologi­schen Mystikers August Strindberg eine fünfstündi­ge Sinfonie des Geschlecht­erkampfes entwickelt. Entstanden ist ein neues Theaterstü­ck mit einer zwischen Hotelzimme­rn springende­n Dramaturgi­e. Eine fünfstündi­ge Geisterbah­nfahrt durch die Abgründe dessen, was am Anfang von Beziehunge­n „Liebe“heißt.

Schon das Bühnenbild sprengt alle Grenzen. Alice Babidge (Bühne und Kostüme) hat für Simon Stones Strindberg-Cocktail die dreistöcki­ge Zimmerfluc­ht eines Hotels gebaut. Das Publikum sieht frontal auf jeweils zwei Hotelzimme­r in jeder Etage und darf als Voyeur durch die nach vorn verglaste Front beobachten, wie Menschen sich lieben oder einen Zipfel Glück vom Leben erhaschen wollen, sich dann aber doch betrügen und bekriegen. In einer der berührends­ten Szenen tastet ein altes Ehepaar sich zu der Frage vor, ob man der unheilbar kranken Frau, würdevoll aus dem Leid des Lebens helfen könnte.

Die Motive, Figuren und Szenen stammen aus Theaterstü­cken, Novellen und Romanen August Strindberg­s, des schwedisch­en Pioniers einer mit Geisterers­cheinungen gewürzten psychologi­schen Dramatik. Stone verwendet Strindberg-Konstellat­ionen, hat zusammen mit den Schauspiel­erinnen und Schauspiel­ern aber völlig neue Gegenwarts­szenen geschriebe­n. Es geht um Sexismus und Gewalt Das Ergebnis sind mehr als 150 Seiten, häufig zwischen den Proben entstanden und in das wachsende Bühnenwerk eingebaut. Da finden sich dann plötzlich Querverwei­se in Richtung der „#MeeToo“-Enthüllung­en rund um den Hollywood-Produzente­n Harvey Weinstein und deutschen TV-Regisseur Dieter Wedel. Es geht um Sexismus und Gewalt, den alltäglich­en Wahnsinn der Liebe und die große Frage, warum sich zugeneigte Menschen gegenseiti­g zerstören.

Gegliedert ist der fünfstündi­ge Abend in drei Teile und zwei Pausen. Im ersten Teil lernt man die Protagonis­ten der Vier-Sterne-Ekstase kennen. Ein älteres Paar streitet, weil sie ihm vorwirft, er sei ein derart selbstverl­iebter Literat, dass er die künstleris­chen Ambitionen der Tochter verächtlic­h mache. Eine junge Frau wartet auf ihren Liebhaber, der aber kommt nicht und man wird Zeuge selbsterni­edrigender Telefonate. Dann ein Mann, der im Hotelzimme­r tatsächlic­h Besuch bekommt. Es ist seine Frau, sie soll lediglich die Scheidungs­dokumente unterschre­iben. Plötzlich aber beginnt das Beziehungs­drama aufs Neue und wir werden Zeuge einer Vergewalti­gung.

Mit diesem dramatisch­en Höhepunkt endet der erste Teil. Im zweiten verknüpft Simon Stone die Fäden einzelner Erzählunge­n. Wir erfahren, wer im Treppenhau­s Wunden leckt, auf der Suche nach einem Abenteuer ist oder die Spuren einer Gewalttat verwischen will. Im dritten Teil wechselt Stone drastisch die Atmosphäre. Wir sind noch im Hotel, im ersten Stock ist jetzt aber die Rezeption und im ersten Obergescho­ß der Frühstücks­raum des Hotels. Die Paare und Figuren der ersten beiden Teile tauchen wieder auf, sind aber erinnerung­slose Wiedergäng­er ihrer selbst. Ist das jetzt eine Psychiatri­e oder war das „Hotel Strindberg“schon immer eine Anstalt zur Wiederhers­tellung geistiger Gesundheit? Dramatisch­e Geschwindi­gkeit Dass Atmosphäre­n derart kippen können, Simon Stone immer wieder wie ein Formel-1-Pilot die dramatisch­e Geschwindi­gkeit erhöht und witzig gewürzte Katastroph­en inszeniere­n kann, liegt am hervorrage­nden Schauspiel-Ensemble, das im Moment in Wien und ab der nächsten Spielzeit in Basel die Zuschauer in den Bann zieht und malträtier­t. In den Zimmern und Hotelflure­n unterwegs sind Franziska Hackl, Barbara Horvath, Roland Koch, Max Rothbart, Aenne Schwarz, Michael Wächter und Simon Zagermann.

Caroline Peters und Martin Wuttke muss man gesondert nennen. Sie spielen das ältere Paar, das wegen der Tochter streitet und sich im zweiten Teil des Abends in ein fremdes Zimmer verirrt. Die Beiden besaufen und entkleiden sich, zerfleisch­en und kosen sich plötzlich aber doch wieder mit einem „Danke, Darling“. Peters und Wuttke spielen auf der Klaviatur des Liebeshass­es gereifter Paare, dass man Angst um ihr Seelenheil bekommt.

Martin Wuttke auf den Leib geschriebe­n ist am Ende dann auch ein Monolog, der für all die Männer steht, die unter der Schutzschi­cht ihrer Testostero­n-Posen arme Würstchen sind. „Schaut mich nicht an! Ein Mann hat doch seine Würde verdient! Er hat es verdient! Ich habe es verdient! Wir haben es verdient! Ein Mann hat seine Würde“, fleht er ins Publikum. Mann meint, das war’s dann, Wuttke schiebt aber noch ein ironisches „oder?“hinterher.

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FOTO: REINHARD MAXIMILIAN WERNER Schon das Bühnenbild sprengt im Wiener Burgtheate­r alle Grenzen.

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