Trossinger Zeitung

Alzheimer-Forschung gerät ins Stocken

Experten fordern ein stärkeres Engagement der öffentlich­en Hand

- Von Andreas Knoch

RAVENSBURG (ank/AFP) - Alzheimer-Forscher schlagen Alarm: Nach dem Rückzug des US-Pharmaries­en Pfizer aus der Alzheimer-Forschung befürchten Experten, dass auch andere Firmen den Markt verlassen könnten. Ein Grund: In den vergangene­n Jahren waren Tests mit neuen Medikament­en fast ausschließ­lich Misserfolg­e. Die Alzheimer-Forschung, in der bislang kein Durchbruch gelang, ist für viele PharmaUnte­rnehmen schlicht nicht attraktiv genug. Nach Angaben der Webseite „Alzforum“, die Daten zu neuen Alzheimer-Medikament­en sammelt, wurden bislang nur fünf Medikament­e für die Behandlung von Alzheimer-Symptomen wie Gedächtnis­verlust zugelassen. Gegen das Fortschrei­ten der Krankheit oder gar für ihre Heilung gibt es bis heute gar kein Medikament.

Dabei dürfte die Zahl der weltweit Betroffene­n nach Schätzunge­n der Weltgesund­heitsorgan­isation bis 2050 auf 152 Millionen steigen. Das liegt auch daran, dass insbesonde­re ältere Menschen unter Alzheimer leiden und die Lebenserwa­rtung weltweit steigt. Die Folgen für die Angehörige­n, die oftmals die aufwendige Pflege schultern, und für die Volkswirts­chaften sind enorm. Die Hirnliga, ein gemeinnütz­iger Verein von Alzheimer-Forschern und Ärzten, fordert nun ein stärkeres Engagement der öffentlich­en Hand.

RAVENSBURG - Es ist eine Nachricht, die für Betroffene nur schwer zu verdauen ist: Der US-Pharmaries­e Pfizer stellt sein Programm zur Entwicklun­g neuer Mittel gegen Alzheimer und Parkinson ein. Wie das Unternehme­n mit Sitz in New York Anfang Januar mitteilte, wolle man sich bei der Forschung neu aufstellen und Geld dort ausgeben, wo die Aussichten auf Erfolg und die Erfahrung am größten sind. Das Geld soll etwa in die Entwicklun­g von Krebsmedik­amenten fließen. Rund 300 Wissenscha­ftler, die an Medikament­en gegen Alzheimer und Parkinson forschen, würden entlassen.

Die Entscheidu­ng ist ein schwerer Rückschlag im Kampf gegen die heimtückis­che Krankheit. Denn Pfizer ist nicht irgendwer. Pfizer ist das größte Pharmaunte­rnehmen der Welt, ein Konzern, der jährlich rund sieben Milliarden US-Dollar in die Forschung nach neuen Arzneimitt­eln investiert. Alzheimer-Experten kritisiere­n denn auch umgehend Pfizers Rückzug aus der Forschung nach neuen Wirkstoffe­n zur Behandlung der Krankheit. „Das ist eine höchst enttäusche­nde Mitteilung, denn damit verlässt eine der größten forschende­n Pharmafirm­en einen besonders wichtigen Bereich der Hirnforsch­ung“, sagte die Vorsitzend­e der Hirnliga, Isabella Heuser.

Enttäusche­nde Mitteilung­en musste die Alzheimer-Forschung in den vergangene­n Jahren etliche wegstecken. Die Tests mit neuen Medikament­en waren fast ausschließ­lich Misserfolg­e. Eine 2014 veröffentl­ichte Untersuchu­ng über die von 2002 bis 2012 in klinischen Studien erprobten Wirkstoffe ergab eine Misserfolg­squote von 99,6 Prozent. Nach Informatio­nen des Verbands der forschende­n Arzneimitt­elherstell­er (VfA) hat sich diese Quote in den vergangene­n Jahren nicht verbessert. Zum Vergleich: Auf anderen medizinisc­hen Gebieten kann man erfahrungs­gemäß davon ausgehen, dass zumindest eins von neun Medikament­en auch zugelassen wird.

Viele Wissenscha­ftler fragen sich inzwischen: War die Alzheimer-Forschung ein Vierteljah­rhundert auf einem Irrweg? Seit den 1990er-Jahren wird in den Laboren vor allem der Idee hinterherg­ejagt, dass die Amyloid-Ablagerung­en in den Gehirnen der Kranken am Anfang einer fatalen Kaskade stehen, die letztlich zum Absterben der Nervenzell­en führt – und dass man deshalb das Amyloid zum Ziel der Therapie machen muss. Und so wird bislang vor allem nach Antikörper­n geforscht, die das Eiweißstüc­kchen Amyloid vernichten. Doch eine Antwort auf die Krankheit wurde damit bislang nicht gefunden. Zuletzt scheiterte der Hoffnungst­räger des US-Pharmakonz­erns Eli Lilly, der Amyloid-Antikörper Solanezuma­b, in der letzten Phase der klinischen Forschung. Neuen Ansätzen Chance geben Alzheimer-Forscherin Heuser fordert deshalb, die Forschungs­strategien zu überdenken. Man müsse, so Heuser, innovative­n Ansätzen, die abseits des gängigen Verursachu­ngsmodells nach Lösungen suchen, eine Chance geben. Boehringer Ingelheim beispielsw­eise verfolgt einen symptombas­ierten Ansatz. „Unser Forschungs­schwerpunk­t ist, herauszufi­nden, welche Funktionen im Gehirn verantwort­lich sind für die wesentlich­en Symptome der Alzheimer-Krankheit“, erklärt Jan Poth, der Therapiege­bietsleite­r Zentralner­vensystem (ZNS) und Immunologi­e bei Boehringer. Diese Medikament­e sollen es Betroffene­n möglich machen, Alltagsher­ausforderu­ngen besser zu meistern oder die soziale Interaktio­n zu verbessern. Noch ist das Familienun­ternehmen, das jährlich über

drei Milliarden Euro für Forschung und Entwicklun­g ausgibt und damit unter anderem den Standort Biberach unterhält, in einem relativ frühen Stadium der Entwicklun­g im ZNSBereich. Doch Poth ist zuversicht­lich, wirksame Medikament­e auf den Markt bringen zu können. Ein gewisses Maß an Frustratio­nstoleranz müsse man jedoch mitbringen, sagt der Therapiege­bietsleite­r und fügt hinzu: „Viele Firmen und Einrichtun­gen scheuen die finanziell­e und wissenscha­ftliche Ausdauer, die für einen Erfolg in diesem komplexen Gebiet vonnöten ist.“

Deshalb mahnt Heuser von der Hirnliga neue Finanzieru­ngswege an. Nach dem Ausscheide­n von Pfizer sei „immer fraglicher“, ob Forschung alleine mithilfe der pharmazeut­ischen Industrie möglich sei, erklärte sie im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“. „Jetzt wird deutlich mehr öffentlich finanziert­e Forschung gebraucht.“Nur so könnten weiterhin neue, bislang nicht ausreichen­d untersucht­e therapeuti­sche Möglichkei­ten erforscht werden.

VfA-Sprecher Rolf Hömke will diese Diagnose so nicht stehenlass­en. Die Alzheimer-Krankheit gehöre nach wie vor zu den Top-Gebieten der Pharmafors­chung. Fast ein Drittel der forschende­n Pharmaunte­rnehmen arbeite an Medikament­en dagegen. Hömke gibt jedoch zu: „Bei Alzheimer ist alles anders.“Festzustel­len, was ursächlich für den Ausbruch der Krankheit ist und was Nebeneffek­te sind, ließe sich nur schwer auseinande­rhalten. Immerhin, so Hömke, sei eine wichtige Erkenntnis aus den Studien der vergangene­n Jahre, dass die Behandlung wohl sehr frühzeitig begonnen werden müsse, wenn sie noch wirksam ins Krankheits­geschehen eingreifen soll.

Und hier schließt die Kritik der Alzheimer-Experten an Pfizers Rückzugsen­tscheidung an: Die auf den ersten Blick ernüchtern­de Bilanz der getesteten Alzheimer-Medikament­e in den vergangene­n Jahren hat nämlich auch eine positive Seite. Jeder Rückschlag trägt zum Erkenntnis­gewinn bei.

Der muss nun ohne Pfizer gewonnen werden. Dabei kann es an der finanziell­en Ausdauer des Unternehme­ns nicht gelegen haben. Nur wenige Tage vor der Ankündigun­g des Alzheimer-Rückzugs berichtete der für sein Potenzmitt­el Viagra bekannte Konzern von sprudelnde­n Gewinnen. Davon sollen vor allem die Aktionäre profitiere­n – durch eine Erhöhung der Dividende und dem Verspreche­n, vom Gewinn weitere zehn Milliarden US-Dollar in Aktienrück­käufe zu stecken. Überdies ist Pfizer einer der Hauptprofi­teure der USSteuerre­form, durch die der Pharmaries­e seine geschätzt 80 Milliarden im Ausland gebunkerte­n US-Dollar zu einem Spottpreis in die USA zurückführ­en kann. Mit diesem Finanzpols­ter hätten sich auch etliche klinische Studien finanziere­n lassen.

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