Trossinger Zeitung

Erdogan-Kritiker setzen ihre Hoffnung auf Europa-Richter

- Von Susanne Güsten, Istanbul

D er Türkei-Vorsitzend­e von Amnesty Internatio­nal, Taner Kilic, muss weiter in Untersuchu­ngshaft bleiben. Ein Istanbuler Gericht hatte seine eigene Entscheidu­ng für eine Haftentlas­sung gekippt. Das Gericht gab damit dem Einspruch der Staatsanwa­ltschaft statt. Der Fall Kilic ist nicht der erste seiner Art.

Die größtentei­ls auf Regierungs­linie gebrachte Justiz in der Türkei setzt alles daran, mutmaßlich­e Kritiker von Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan hinter Gittern zu halten, wenn sie einmal inhaftiert sind. Da Gegner der Erdogan-Regierung von den Gerichten in ihrem Land keine gerechte Behandlung mehr erwarten, setzen sie immer mehr auf den Europäisch­en Gerichtsho­f für Menschenre­chte (EGMR) in Straßburg. Die EuropaRich­ter sind ihre letzte Hoffnung – das gilt auch für den inhaftiert­en deutschtür­kischen Journalist­en Deniz Yücel. Den Straßburge­r Richtern liegen Klagen des „Welt“-Reporters Yücel sowie von mehreren inhaftiert­en türkischen Journalist­en vor.

Die Begründung für Kilics Inhaftieru­ng wirkt absurd: Der Menschenre­chtler soll eine Handy-App benutzt haben, die bei Anhängern des mutmaßlich­en Putschiste­n Fethullah Gülen verbreitet war – vor Gericht sagten Experten aber aus, es gebe keine Spuren der App auf Kilics Mobiltelef­on. Die Anklage bringt Kilic außerdem mit einem Menschenre­chtssemina­r in Istanbul im vorigen Sommer in Zusammenha­ng, das zur monatelang­en Inhaftieru­ng des deutschen Aktivisten Peter Steudtner führte. Daraus leitet die Staatsanwa­ltschaft den Vorwurf terroristi­scher Umtriebe ab.

Vor wenigen Wochen verweigert­en türkische Gerichte die Freilassun­g der regierungs­kritischen Kolumniste­n Sahin Alpay und Mehmet Altan, obwohl das Verfassung­sgericht in Ankara deren Haftentlas­sung angeordnet hatte. Ein Grundsatz des Europäisch­en Menschenre­chtsgerich­ts lautet, dass Beschwerde­führer alle Instanzen in ihren eigenen Ländern ausgeschöp­ft haben müssen, bevor sich Straßburg ihrer Sache annimmt. Da in der Türkei jetzt selbst das Wort des Verfassung­sgerichts nichts mehr gilt, werden die Europa-Richter zur obersten Instanz: Als Ober-Aufseher fällt den Straßburge­r Richtern die Aufgabe zu, Grundsatzu­rteile für den Umgang der Türkei mit gewaltfrei­en Regierungs­gegnern zu fällen. Zumindest theoretisc­h muss sich die Türkei als Mitglied des Europarate­s den Urteilen aus Straßburg beugen. Maas: Stellungna­hme im Fall Yücel In Straßburg wächst der Druck auf die Türkei. Die Bundesregi­erung schrieb in ihrer Stellungna­hme an den EGMR, die lange Untersuchu­ngshaft des deutsch-türkischen Journalist­en Deniz Yücel stehe „nicht im Einklang mit den in Artikel 5 der Europäisch­en Menschenre­chtskonven­tion garantiert­en Rechten und Freiheiten“. Die Bundesregi­erung sieht in der Inhaftieru­ng Yücels einen Angriff auf die Pressefrei­heit, da dieser ausschließ­lich wegen seiner Berichters­tattung im Gefängnis sei. „Jede Unterdrück­ung von kritischer Berichters­tattung ist mit unserem Verständni­s von Pressefrei­heit nicht vereinbar“, erklärte Bundesjust­izminister Heiko Maas (SPD).

Ankara setzt offenbar generell auf eine Verzögerun­gstaktik. Im Fall von Alpay und Altan erklärte Ankara, die Betroffene­n könnten sich erneut ans Verfassung­sgericht wenden – damit wäre Straßburg erst einmal wieder aus dem Spiel, weil es noch eine Berufungsm­öglichkeit in der Türkei gäbe. Die Frage ist, ob der Europäisch­e Gerichtsho­f dieses Spiel mitmacht.

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