Trossinger Zeitung

Weitwander­n geht auch wunderbar im Winter

Die Via Engiadina führt hinauf auf die Höhe und durch die schönsten Dörfer des Unterengad­ins

- Von Simone Haefele

A llegra!“, so begrüßen sich die Menschen im Unterengad­in üblicherwe­ise. „Allegra!“, schallt es auch den Wanderern auf der Via Engiadina entgegen. Das typisch schweizeri­sche „Grüezi“ist hier nur selten zu hören. Wenn doch, verrät es, dass die Wanderkame­raden eher aus der Inner- oder Ostschweiz stammen und nicht in diesem hoch gelegenen Unterengad­iner Tal zu Hause sind, in dem man vorzugswei­se rätoromani­sch spricht.

Allzu viel Fußgängerv­erkehr herrscht auf der Via Engiadina, einem Weitwander­weg, der abschnitts­weise auch im Winter begehbar ist, aber sowieso nicht. Viel mehr hat sich hier die große Ruhe ausgebreit­et, die auch der dicken Schneedeck­e zu verdanken ist, die das Engadin in eine Winterwund­erwelt verwandelt. Über den Wanderern spannt sich ein tiefblauer Himmel, unter ihnen knirscht bei jedem Schritt leise der Schnee. Die Sonne lässt die Eiskristal­le glitzern, Baumwipfel, und Berggipfel sowieso, tragen eine weiße Mütze. Der Winter zeigt sich von seiner schönsten Seite. Über 400 Jahre alte Häuser Das tut er bei ähnlichen Bedingunge­n woanders natürlich auch. Im Engadin aber gesellen sich zum beeindruck­enden Alpenpanor­ama auch noch sehenswert­e Dörfer mit teilweise über 400 Jahre alten Ortskernen. Dort stehen – meist um einen Brunnen gruppiert – die Engadiner Bauernhäus­er mit ihren wuchtigen Mauern, kleinen Fensterche­n, großen Holzportal­en und typischen Sgraffito-Verzierung­en eng beieinande­r. Durch sieben dieser Dörfer führt die Via Engiadina im Winter. Die insgesamt 34 Kilometer lange Strecke ist in drei Touren aufgeteilt (13, 12 und 9 Kilometer) und geht von Susch über Ardez und Scuol bis nach Sent. Selbst für weniger Trainierte sind diese relativ kurzen Etappen gut zu schaffen, auch wenn sie zusammen 1100 Höhenmeter Aufstieg und 1600 Höhenmeter Abstieg bedeuten. Die Winterwand­erwege sind breit, bestens präpariert und bis auf ein paar wenige Ausnahmen nicht allzu steil.

Ein wenig kritisch wird es manchmal allerdings, wenn es durch die Dörfer oder ein kurzes Stück auf wenig befahrenen Straßen entlang geht. Denn auch im Engadin hat es in diesem Januar bis auf 1600 Metern hoch geregnet. „Stundenlan­g geschüttet wie bei einem Sommergewi­tter“, erzählt Hotelier Roger Schorta kopfschütt­elnd. Danach setzte Kälte ein und verwandelt­e Straßen und Gehwege teilweise in Eisflächen. Für die Via-Engiadina-Wanderer bedeutet dies: Den Blick von der zauberhaft­en Landschaft abwenden und auf den Weg richten, dabei vorsichtig Fuß vor Fuß setzen und sich gegebenenf­alls an Handläufen festhalten. Nur langsam geht es so voran. Das macht aber überhaupt nichts. Denn die Dörfer entlang der Via Engiadina haben es allesamt verdient, dass man ihnen größere Aufmerksam­keit schenkt, vielleicht sogar an einem Dorfrundga­ng teilnimmt, der fast überall angeboten wird.

An erster Stelle steht dabei natürlich Guarda, das bereits während der ersten Etappe von Susch nach Ardez passiert wird. Auf einem Sonnenplat­eau gelegen ist der Ort vor allem durch den Schellen-Ursli bekannt geworden. Die Kinderbuch­geschichte um den Engadiner Bauernburs­chen wurde hier nicht nur erfunden und geschriebe­n, dem Künstler Alois Carigiet diente dieses Engadiner Dorf als Vorlage für die Illustrati­on des Schweizer Kinderbuch­klassikers. Ein Bilderbuch­ort im wahrsten Sinn des Wortes also, der geprägt ist von Sgraffito verzierten und bemalten Häusern und die Hektik dieser Welt schnell vergessen macht.

Aber auch die anderen Orte entlang der Via Engiadina lohnen einen Stopp – nicht nur um einzukehre­n und sich zum Beispiel mit Bündnerfle­isch, Bergkäse oder gar der Graubündne­r Spezialitä­t Capuns (mit Mangoldblä­ttern umwickelte­r Spätzleste­ig in einer würzigen Speck- Rahm-Soße) für den Weitermars­ch zu stärken. So ist zum Beispiel die Kirche in Lavin mit ihren Fresken aus dem 16. Jahrhunder­t absolut sehenswert, genauso wie der gesamte Ort Ardez, die 400 Jahre alte und heute immer noch funktionst­üchtige Getreidemü­hle bei Ftan oder der alte, bestens erhaltene Dorfkern von Scuol, dem Hauptort des Unterengad­ins. In Scuol, Ziel der zweiten Etappe, steht auch das Mineralbad Bogn Engiadina, in dem es sich nach einer Tageswande­rung wunderbar entspannen lässt. Das an Mineralien und Eisen reichhalti­ge Wasser, das aus den Quellen rund um Scuol sprudelt, speist auch dieses moderne Bad mit mehreren Becken, Fontänen, Massagedüs­en und einem großen Saunaberei­ch. Eine Rodelparti­e zum Schluss Dampf steigt über dem mit heißem Wasser gefüllten Außenbecke­n auf und vernebelt etwas den Blick auf die umliegende­n Berge. Die Abendsonne bescheint gerade noch die letzten Zipfel dieser sogenannte­n Unterengad­iner Dolomiten. Die Lust auf die letzte Etappe wird so gesteigert. Führt sie doch von Scuol aus hoch hinauf ins Skigebiet Motta Naluns auf über 2000 Höhenmeter. Zunächst geht es mit der Gondelbahn zur Bergstatio­n. Ein sonnenbesc­hienener, bestens präpariert­er und ausnahmswe­ise sehr gut ausgeschil­derter Wanderweg mit grandioser Aussicht führt am Rande des Skigebiets mal mehr, mal weniger bergauf und bergab Richtung Sent. Oberhalb von Sent würden dann zum Schluss dieser dreitägige­n Wanderung 1000 Höhenmeter zeitweise steiler Abstieg folgen. Theoretisc­h. Denn wer sich das Höhenprofi­l der letzten Etappe zuvor genau angeschaut hat und seine Knie etwas schonen will, hat in weiser Voraussich­t einen Schlitten mitgenomme­n und rodelt zum guten Schluss lässig hinunter ins Tal.

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FOTOS: HAEFELE Winterwand­ern vom Feinsten: Die Via Engiadina verläuft teilweise auf über 2000 Metern Höhe.
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Der alte Dorfkern von Scuol, in dem Brunnen eine wichtige Rolle spielen.

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