Große Koalition mit großen Überraschungen
Schulz und Seehofer wollen ins Kabinett – Murren in der CDU über Kanzlerin Merkel
BERLIN - 136 Tage nach der Bundestagswahl und 13 Tage nach dem Start der Koalitionsverhandlungen steht der Koalitionsvertrag, um den Union und SPD heftig gerungen haben. „Es war ein langer Weg“, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Mittwochnachmittag. Die Kompromisse seien teils schwierig gewesen, etwa bei den Themen Zuwanderung und Integration, aber „es hat sich gelohnt“. Sie glaube, dass der Koalitionsvertrag „Grundlage einer guten und stabilen Regierung sein“könne. Jedoch ist die CDU-Chefin noch nicht ganz am Ziel. Die SPD-Basis muss bis Anfang März der Neuauflage der Großen Koalition noch per Mitgliedervotum zustimmen.
Wie gut die Chancen hierfür stehen, ist offen. Die SPD steht infolge der Einigung vor dem nächsten großen Umbruch. Martin Schulz möchte den Parteivorsitz an Fraktionschefin Andrea Nahles abgeben und – entgegen früherer Aussagen – nun doch Minister in einem Kabinett unter Kanzlerin Merkel werden. Als Außenminister würde er Sigmar Gabriel (SPD) ersetzen. Wichtigster Sozialdemokrat im Kabinett soll Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz als Vizekanzler und Finanzminister werden. Der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer würde ein neu zugeschnittenes Superministerium für Inneres, Heimat und Bau übernehmen. Damit ist auch für Thomas de Maizière kein Platz mehr in der Regierungsmannschaft.
All dies sind Ergebnisse des überraschenden Finales der Koalitionsverhandlungen, die am Mittwochmorgen erst nach 24 Stunden endeten. Neben den letzten inhaltlichen Fragen wurde in der Schlussrunde die Postenverteilung weitgehend geklärt. Die SPD, die bei der Bundestagswahl nur 20,5 Prozent der Stimmen erhalten hatte, schnitt gut ab. Sie soll sechs Ministerien bekommen, darunter die prestigeträchtigen Ressorts Außen, Finanzen und Arbeit. Hinzu kommen Familien-, Justizund Umweltministerium. Schulz sagte in einer Pressekonferenz mit Merkel und Seehofer, der Koalitionsvertrag trage „in einem großen Maße sozialdemokratische Handschrift“.
Seit der verlorenen Bundestagswahl hatte es massiven Unmut in der SPD über Schulz’ Amtsführung gegeben. Das Aufgeben des Parteivorsitzes könnte mit Blick auf den Mitgliederentscheid ein Zugeständnis an die Kritiker sein. Sollten die rund 463 000 SPD-Mitglieder zustimmen, kann das neue Kabinett wenige Tage später im Bundestag vereidigt werden, womit die mit Abstand längste Regierungsbildung in der Geschichte der Bundesrepublik nach fast einem halben Jahr vollbracht wäre.
Doch auch in der CDU brodelt es. Der Unmut über zu viel SPD im Koalitionsvertrag und den Verlust des Finanz- und Innenministeriums ist groß. „Viele ballen die Faust in der Tasche“, heißt es in der Fraktion. Es sei bitter, dass die Union das Schlüsselministerium Finanzen abgebe, sagte der CSU-Politiker Hans Michelbach. Auch der Chef der Mittelstandsund Wirtschaftsvereinigung der Union, der Bundestagsabgeordnete Carsten Linnemann, zeigte sich unzufrieden. „Die Verteilung der Ressorts lässt jede Ausgewogenheit vermissen. Dieses deutliche Ungleichgewicht zulasten der Union und zugunsten der SPD ist bitter und wird lange in den Kleidern bleiben”, sagte er.
BERLIN - „Puuuh! Wir haben wenigstens noch das Kanzleramt“, hat der Bruchsaler CDU-MdB Olav Gutting getwittert. Das gibt einen Teil der Stimmung in der CDU wieder, nachdem so viele wichtige Ressorts an die SPD gegangen sind. Jetzt ist es nicht die SPD, die grollt, sondern die CDU. „Es ist nicht einfach zu verstehen für die Union, dass das Schlüsselministerium Finanzen abgegeben wurde“, sagt Hans Michelbach (CSU), Landesvorsitzender der Mittelstandsunion, vor Beginn der Fraktionssitzung der Union.
Doch CDU-Chefin Angela Merkel vermittelt einen gelassenen Eindruck, als sie zusammen mit CDUChef Horst Seehofer und SPD-Chef Martin Schulz am Mittag im Adenauer-Haus vor die Kameras tritt. Von Merkel hat die Öffentlichkeit in den vergangenen Monaten wenig gesehen. Bei den Koalitionsgesprächen trat sie in den Hintergrund und sah ihre Rolle vor allem im Moderieren und Zusammenführen. Gauland bohrt in der Wunde Die „CDU hat sich völlig aufgegeben“, sagt AfD-Fraktionschef Alexander Gauland. Der gehörte früher selbst zu den Konservativen in der CDU. Jetzt bohrt er in der Wunde, dass die CDU, so Gauland, keines der Kernressorts mehr besetze. Doch CDU-Vize Julia Klöckner wehrt solche Vorwürfe sofort ab: „Alle Ministerien zur Digitalisierung sind in Unionshand. Dass die Union wieder das Wirtschaftsministerium besetzen wird, ist ein klares Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft, zur Wohlstandssicherung und zum Wirtschaftsstandort Deutschland.“ Auch dass die innere Sicherheit die Unionshandschrift trage, sei wichtig, so Klöckner.
Nach einem 24-stündigen Verhandlungsmarathon wirken alle drei Parteichefs angeschlagen. „Es war ein langer Weg, der uns heute hierher geführt hat“, sagt Kanzlerin Merkel, „aber es hat sich gelohnt.“Die Bürger hätten sich gewünscht: „Bildet endlich eine Regierung“und „denkt an die wirklichen Interessen der Leute“. Der Koalitionsvertrag mache beides. Er sei ein Arbeitsprogramm für die Menschen, so Merkel. Sie dankt ihren Verhandlungspartnern Martin Schulz (SPD) und Horst Seehofer (CSU).
Schulz weist noch einmal darauf hin, dass die SPD nicht die Schuld trage an der langsamen Regierungsbildung. „Die Koalitionsverhandlungen waren die kürzesten, die es in der Geschichte der Bundesrepublik gegeben hat.“Er ist zufrieden, dass der Vertrag in einem großen Maße „sozialdemokratische Handschrift“trage. „Wir machen Politik für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Lande“, so Schulz. Er verweist darauf, dass bei den befristeten Arbeitsverträgen Erfolge errungen wurden, sie sollen abgebaut werden. Der Soli wird für die mittleren und kleinen Einkommen abgeschafft, und es wird ein sozialer Arbeitsmarkt geschaffen.
„Wir machen Politik für die Kinder und Familien“, sagt Schulz und verweist auf elf Milliarden mehr für bessere Bildung. Besonders aber bedankt sich der SPD-Chef und frühere Präsident des Europäischen Parlaments für die europapolitische Passage. „Die Bundesrepublik Deutschland wird zu einer aktiven und führenden Rolle in Europa zurückkehren“, so Schulz.
Am kürzesten fasst sich CSUChef Horst Seehofer: Er sei hochzufrieden mit dem Ergebnis. „Wer 177 Seiten liest, wird feststellen, dass wir eine ganze Menge Gutes für die Leute in unserem Land vorhaben.“Das sei kein „Weiter so“. Seehofers Fazit fällt auf bayerisch sehr kurz und prägnant aus. „Passt scho.“