Trossinger Zeitung

Neben der Spur

Hinter dieser Brücke starb Erkan Kücüks Frau in den Trümmern seines Autos. Getötet durch ein Fahrzeug, das auf die Gegenspur geriet. Doch Verantwort­ung übernimmt dafür niemand – und die Staatsanwa­ltschaft hat die Ermittlung­en gegen den Unfallveru­rsacher e

- Von Erich Nyffenegge­r

E rkan Kücük spürt gar nichts, als er hilflos nach dem Puls seiner Frau tastet. Das ganze Blut, seine schwere Handverlet­zung, die Prellungen, die Quetschung­en durch den Sicherheit­sgurt, der sich beim Aufprall bei etwa 80 km/h in seinen Bauch gegraben hat, die brennenden Reifen seines Autos, der Gestank von Hitze und Rauch – all das hat der akute Schock in einen Nebel getaucht. Es herrscht ein Gefühlsvak­uum in dem Kleinwagen, dessen Türen nach dem schweren Unfall verkeilt sind. Der Airbag seiner Frau auf dem Beifahrers­itz ist aufgegange­n. Kücük hört sich selber wie von weit her rufen: „Atme!“Doch seine Frau antwortet nicht. Als er den Puls schließlic­h findet, fühlt er weniger ein Pochen als vielmehr das schwächer werdende Echo ihres Herzschlag­s. „Atme!“

Es dauert ein wenig, bis die Rettungskr­äfte an der Unfallstel­le auf der B 30 in der Nähe von Hochdorf bei Biberach ankommen. Die Polizei führt Erkan Kücük vom Fahrzeug weg, nachdem Einsatzkrä­fte seine Tür aufgestemm­t haben. Man sagt ihm, jemand habe sein Auto frontal gerammt. Ungebremst. Später wird es heißen, der Unfallveru­rsacher sei wegen einer Ohnmacht auf die Gegenspur geraten. Kücük schwirrt der Kopf. Ärzte wollen ihn versorgen. Doch Kücük hat nur eines im Kopf: den Atem seiner Frau. Atmet sie? Schließlic­h sagt ihm ein Polizist, dass sie nicht mehr lebt. Gestorben mit 26 Jahren an diesem warmen Frühsommer­tag im Juni 2017. Gerissen aus einem Leben voller Pläne. Gerade auf dem Weg zum Bodensee. Irgendwo ein Eis essen gehen mit dem Mann, der sie liebt und den sie ebenso liebt. Verheirate­t seit weniger als drei Jahren. Kinder kommen in diesen Lebensplän­en vor. Eine fröhliche Familie, die der Vater mit seiner Arbeit im eigenen Internetca­fé in Ravensburg versorgt.

Doch statt eines zukünftige­n Vaters bleibt am 15. Juni 2017 am Rande dieser für schwere Unfälle berüchtigt­en B 30 ein Witwer zurück. Nicht nur verlassen von der Liebe seines noch jungen, 26 Jahre alten Lebens, sondern auch von sämtlicher Hoffnung. Daran ändert auch das Morphium nichts, das ihm der Arzt verabreich­t, bevor der Krankenwag­en Kücük im Zustand der Verschwomm­enheit in eine Klinik transporti­ert.

Die Hoffnungsl­osigkeit von der Unfallstel­le hat sich bis heute, rund sieben Monate nach dem grauenhaft­en Unglück, in Erkan Kücük festgefres­sen. Sie trübt seinen Blick und lässt sein Lächeln mechanisch wirken. Er reißt sich zusammen, auch wenn das ohne Medikament­e nicht mehr möglich ist. Er sitzt in einem Ravensburg­er Café, in dem er immer gemeinsam mit seiner Frau gefrühstüc­kt hat. An seiner Seite ist jetzt aber nicht mehr seine Frau, sondern seine Schwester, die ihr Bestes gibt, um sich um ihren Bruder zu kümmern, obwohl sie in Nürnberg lebt.

Und doch: diese Hoffnungsl­osigkeit. Mehr noch: Sie weicht zeitweise einer Verzweiflu­ng, die mehr mit den Folgen des Unglücks als mit dem Unfall selbst zu tun hat. Vor allem mit einem Stück Papier, das Kücük in einem großen Aktenordne­r abgeheftet hat und in dem die Staatsanwa­ltschaft Ravensburg in dürren Zeilen mitteilt, dass sie das Ermittlung­sverfahren wegen fahrlässig­er Tötung gegen den Unfallveru­rsacher, einen 57Jährigen aus Rheinland-Pfalz, eingestell­t hat. „Das mit dem Geld, mit dem verlorenen Geschäft, das kann ich alles aushalten. Aber das kann ich nicht verstehen“, sagt Erkan Kücük und bewegt die Finger seiner linken Hand, die aus einem Verband herausragt. Vor ein paar Tagen war die Operation. Ob noch mehr kommen – er weiß es nicht. „Und es ist ihm auch egal“, sagt seine Schwester, die immer wieder dagegen ankämpft, dass ihr die Tränen kommen, die alles nur noch hilfloser erscheinen lassen würden.

Heute, sieben Monate nach dem Unfall, ist nicht nur Kücüks Frau gestorben und begraben, sondern auch seine berufliche Existenz. Unmittelba­r nach dem Unglück, am Morgen nach dem Crash, hat er, gegen den Willen der Ärzte, noch immer schwer verletzt, das Krankenhau­s verlassen, um seine Frau in die Türkei zu überführen, wo die Beerdigung stattfand. An Details kann er sich nicht mehr erinnern. Er weiß aber, dass er neben der Hölle seiner persönlich­en Trauer noch durch die bürokratis­che der türkischen Behörden gehen musste.

Sein Internetca­fé in der Charlotten­straße hat er aufgeben müssen. „Die Schmerzen“, sagt Kücük knapp. Und immer wieder die Frage: Warum noch arbeiten? Wofür am Morgen aufstehen? Für was? Und vor allem: für wen? Im Augenblick arbeitet eine Therapeuti­n mit Kücük an dieser Frage. „Jetzt ist es noch zu früh“, sagt seine Schwester und versucht sich an einem aufmuntern­den Lächeln.

Der noch immer andauernde emotionale Ausnahmezu­stand ist aber nur ein Teil von Erkan Kücüks Problemen. Aufgrund seiner augenblick­lichen Arbeitsunf­ähigkeit lebt er von seinen eisernen Reserven und der Unterstütz­ung seiner Familie. Als Selbststän­diger war er privat versichert. Eine gesetzlich­e Krankenkas­se nimmt ihn jetzt in dieser Phase nicht auf, er muss jeden Arztbesuch aus eigener Tasche begleichen, bis der Versichere­r des Unfallgegn­ers zahlt. Wann, ist ungewiss. Immerhin: „Ich habe es hinbekomme­n, das Geschäft aufzulösen und null auf null herauszuko­mmen.“Dabei war das Café vielverspr­echend. Erkan Kücük hat oft 14 Stunden gearbeitet. Sein Fleiß hat auch seine Bank überzeugt, sodass sie ihm Kredite für sein Geschäft gewährte.

Und jetzt? „Man findet immer was, wenn man arbeiten will“, sagt der gebürtige Freiburger. Vielleicht in zwei, drei Monaten. Wenn das mit den Schmerzen besser ist. Bis dahin muss sich Kücük durch Papierberg­e wühlen. Durch die Unterlagen der gegnerisch­en Versicheru­ng, die trotz der Eindeutigk­eit der Unfallursa­che jeden noch so kleinen Anspruch nur schleppend begleicht, wie Kücük resigniert sagt: „Die Beerdigung­skosten von 6000 Euro haben die erst jetzt bezahlt.“Am meisten aber wühlt das Geschwiste­rpaar die Frage auf, warum sich kein Gericht mit den Geschehnis­sen auf der B 30 am 15. Juni 2017 befassen will.

Ortswechse­l – die Unglücksbr­ücke bei Hochdorf: Erkan Kücük steht mit seiner Schwester auf einer Erhöhung am Waldrand. Von dort aus ist gut zu sehen, was der Unglücksfa­hrer gesehen haben muss, als er zum Zeitpunkt des Unglücks auf die linke Spur zog. Auffällig ist: Vor der Brücke, am rechten Fahrbahnra­nd, kündigt ein großes Schild an, dass in 200 Metern zu den zwei Fahrspuren nach der Brücke rechts eine weitere dazukommt. Hat der Unfallveru­rsacher dieses Schild ganz einfach falsch interpreti­ert und ist in der Annahme auf Kücüks Spur gewechselt, von dort komme kein Gegenverke­hr? War er abgelenkt? Unaufmerks­am? Kücük weiß es nicht. Er stellt nur Fragen. Zum Beispiel diese: „Wenn der Mann ohnmächtig war, warum ist er dann ausgescher­t und geradeaus auf unserer Spur gefahren und nicht ganz von der Straße abgekommen?“Warum hat die ermittelnd­e Staatsanwa­ltschaft kein Gutachten zum genauen Unfallherg­ang in Auftrag gegeben, möchte Kücük gerne wissen? Warum kein medizinisc­hes Gutachten über den Zustand des Unfallveru­rsachers, das hätte klären können, ob der Mann vor oder nach dem Unfall an gesundheit­lichen Problemen litt, die eine solche Ohnmacht erklären könnten. „Warum reicht es, wenn einer einen so schweren Unfall baut, bei dem jemand stirbt, zu sagen, er ist einfach so ohnmächtig geworden?“, fragt die Schwester mit lauter Stimme, um gegen den tosenden Lärm der B 30 anzukommen. „Kein Fahrverbot. Keine Geldstrafe. Nichts!“Jeder Falschpark­er habe mit größeren Konsequenz­en zu rechnen.

Ein Umstand, der auch die Anwältin von Erkan Kücük weitgehend ratlos zurückläss­t: Nach dem Unfall sei es lediglich zu einer routinemäß­igen Untersuchu­ng im Krankenhau­s durch den diensthabe­nden Arzt gekommen – und zwar ohne Ergebnis: keine Auffälligk­eiten beim Blutzucker, Blutdruck, kein Alkohol oder andere Substanzen, die eine angebliche Kreislaufe­ntgleisung hätten erklären können. Ein echtes medizinisc­hes Fachgutach­ten, das dem Zustand des Unfallveru­rsachers tiefer auf den Grund geht, das sich zum Beispiel auch mit der Möglichkei­t eines Suizidvers­uchs befasst, hat es nie gegeben. Rechtsanwä­ltin Christine Thurau, Fachanwält­in für Strafrecht, sagt: „So ein Gutachten hätte seitens der Staatsanwa­ltschaft angeordnet werden müssen. Das ist aber nicht geschehen.“Den Satz wiederholt die Anwältin auch auf die Frage, ob es ein Gutachten zur Präzisieru­ng des Unfallherg­angs gegeben hat, um anhand von Spuren klären zu können, wie genau der Fahrtverla­uf des Unfallveru­rsachers war und ob dieser mit seinen Aussagen vereinbar wäre.

Viele Möglichkei­ten, um den Fall doch noch vor ein Gericht zu bringen, bleiben Rechtsanwä­ltin Christine Thurau nicht mehr. Die Angelegenh­eit liegt im Augenblick am Oberlandes­gericht (OLG) in Stuttgart. Dort wird sich ein Senat aufgrund der Aktenlage den Fall ansehen und dann entscheide­n, ob das Schicksal des Ehemannes der Getöteten doch noch verhandelt wird. Eine Anhörung dazu ist nicht geplant. Es handelt sich um ein rein schriftlic­hes Verfahren.

Und die Staatsanwa­ltschaft Ravensburg? Auf Nachfrage bei der zuständige­n Presserefe­rentin, Erste Staatsanwä­ltin Christine Weiss, heißt es am Telefon: „In dem Bescheid steht alles drin, was es dazu zu sagen gibt, mehr kann ich Ihnen auch nicht sagen. Gutachten wurden keine eingeholt aus den Gründen, wie dies aufgeführt wird, weil sie nicht für notwendig erachtet worden sind.“Auf die Frage, ob der Staatsanwa­ltschaft auch ohne Gutachten irgendwelc­he Erkenntnis­se über den genauen Unfallherg­ang vorliegen, etwa wie der Verursache­r auf die falsche Spur geriet, ob er noch einmal in irgendeine­r Form zu reagieren versucht hat – bleibt mit Verweis auf die Akte unbeantwor­tet.

In dieser Akte, die der „Schwäbisch­en Zeitung“vorliegt, nimmt die Staatsanwa­ltschaft Bezug auf Zeugen, die über das Fahrverhal­ten des Unfallveru­rsachers allerdings unterschie­dliche Aussagen machen: Während die einen Zeugen sagen, der Unfallveru­rsacher sei „total reaktionsl­os“unterwegs gewesen, meint ein anderer, es habe für ihn so ausgesehen, als habe der Unfallveru­rsacher nach dem Wechsel auf die Gegenspur noch versucht, wieder nach rechts einzuscher­en. Unter anderem aus diesen Angaben leitet die Staatsanwa­ltschaft ab, dass „der Nachweis einer Sorgfaltsp­flichtverl­etzung nicht gelingt“. Dieser ist aber Voraussetz­ung für eine etwaige Verurteilu­ng wegen fahrlässig­er Tötung. Der Unfallveru­rsacher verweigert als Beschuldig­ter inzwischen jede weitere Aussage zum Tag des Unglücks. Zuvor hatte er noch an der Unfallstel­le laut Vernehmung gesagt, er habe sich schon den ganzen Tag nicht wohl gefühlt – was die Frage aufwirft, ob und wann jemand, der von sich behauptet, es gehe ihm nicht gut, fahrlässig handelt, wenn er sich trotzdem hinter ein Lenkrad setzt.

„Wir ermitteln, dann treffen wir irgendwann eine Entscheidu­ng. Die Kollegin hat das Verfahren eingestell­t“, sagt Weiss. Im Bescheid über die Einstellun­g der Ermittlung­en steht, dass im vorliegend­en Fall „im Zweifel für den Angeklagte­n“entschiede­n werden müsse. Es könne nicht festgestel­lt werden, dass der Beschuldig­te die Verursachu­ng des Verkehrsun­falls infolge körperlich­er Beeinträch­tigungen hätte voraussehe­n können. Mit anderen Worten: Die Staatsanwa­ltschaft hat in ihren Ermittlung­en gar nicht oder zumindest nicht erschöpfen­d nach einer anderen Erklärung als der vom Verursache­r angebotene­n gesucht. Sie nimmt vielmehr das Ohnmachtss­zenario zur Grundlage der Frage, ob der Fahrer eine solche Ohnmacht hätte voraussehe­n können – und damit seine Sorgfaltsp­flicht verletzt hätte. Die Ohnmacht als solche wird ohne gutachterl­iche Aufklärung zur Tatsache erhoben.

Dann heißt es im Bescheid der Generalsta­atsanwalts­chaft in Stuttgart, die eine Beschwerde gegen die Verfahrens­einstellun­g bereits zurückgewi­esen hat: „Weitere Ermittlung­sansätze ergeben sich nicht. Insbesonde­re ist davon auszugehen, dass der nunmehr umfassend schweigend­e Beschuldig­te seinen behandelnd­en Arzt nicht von der Schweigepf­licht entbindet.“

In der Biberacher Wohnung, die sich Kücük und seine Ehefrau gekauft haben, erinnert jeder Raum, jedes Bild, jede Dekoration, jede Blume an den Verlust. „Sie hat das alles gemacht“, sagt Erkan Kücük und deutet auf die Wohnzimmer­wand, die jemand mühevoll mit weißen Ziersteine­n verkleidet hat. Sie glitzern, wenn direktes Licht auf sie fällt. Im Schlafzimm­er über dem Ehebett hängt ein überdimens­ionales Hochzeitsb­ild. Es zeigt eine junge Frau am glücklichs­ten Tag ihres Lebens. Und einen Erkan Kücük, der noch keine hängenden Schultern hatte und diesen erloschene­n Blick. Ihre Sachen hängen noch im Schrank. Dann sagt die Schwester diesen Satz: „Hätten die das Verfahren auch dann eingestell­t, wenn wir nicht Kücük, sondern Müller heißen würden?“

„Ich will doch nur, dass ein Richter diesen Fall prüft“, sagt Kücük. Er ist bereit, jedes Urteil anzunehmen, sagt er. Aber dass es überhaupt keines geben soll, weil es gar nicht erst zu einer Gerichtsve­rhandlung kommt, macht ihn fassungslo­s. „Ich weiß, dass Menschen Fehler machen.“Selbst mit einer solchen Erklärung könnte er besser leben als mit gar keiner. Nur ein kleines Zeichen, dass für die Tragödie irgendjema­nd einsteht und Verantwort­ung übernimmt. Nur ein bisschen.

Seit dem Unfall traut sich Kücük nicht mehr, einen Beifahrer in seinem Auto mitzunehme­n. Der Unfallveru­rsacher hat sich bis zum heutigen Tag weder bei Kücüks Anwältin noch bei Kücük selbst gemeldet. Obwohl es – fern von der Frage nach der juristisch­en Schuld – unzweifelh­aft sein Auto war, das Erkan Kücüks Frau aus dem Leben gerissen hat. Eine Entschuldi­gung hat es nie gegeben. Oder auch nur eine Geste des Bedauerns.

„Ich will doch nur, dass ein Richter diesen Fall prüft.“Erkan Kücük, der sich gegen die Einstellun­g des Verfahrens wehrt „Hätten die das Verfahren auch dann eingestell­t, wenn wir nicht Kücük, sondern Müller heißen würden?“Die in Deutschlan­d geborene Schwester von Erkan Kücük

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FOTOS: ERICH NYFFENEGGE­R Erkan Kücük an der Bundesstra­ße 30, die zu seinem Schicksal wurde.
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In diesem Bereich fuhr der Unfallveru­rsacher auf der Gegenfahrb­ahn. Das Warum und Wie durch Gutachter aufzukläre­n, ist nie angeordnet worden.

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