Goldener Bär für umstrittenen Film
Die Jury der Berlinale unter Tom Tykwer lässt die vier deutschen Beiträge unprämiert
BERLIN (sz) - Die Berlinale hat bei ihrer 68. Ausgabe erneut für Diskussionen gesorgt: Der Goldene Bär ging an „Touch Me Not“, einen umstrittenen Film der rumänischen Regisseurin Adina Pintilie über Intimität und Sex. Die hochgelobten deutschen Beiträge gingen leer aus.
BERLIN - Wieder einmal hat eine Berlinale-Jury Kritiker und Publikum düpiert: Den Goldenen Bär für den Film „Touch Me Not“der rumänischen Regisseurin Adina Pintilie hatte niemand auf der Rechnung. Die deutschen Filme gingen leer aus – was schade und unverdient ist.
Die internationale Koproduktion – einem einzelnen Land lässt er sich kaum zuordnen – zeigt halb fiktiv, halb dokumentarisch einige Menschen und ihr Verhältnis zu einer Sexualität abseits des Mainstreams, manchmal durchaus auch am Rande der unfreiwilligen Komik. So stellt eine Transfrau ihre beiden Brüste als „Lilo“(links) und „Gusti“vor. Die junge Regisseurin sieht ihren Film als Annäherung an das Thema Intimität – was auf einer großen Leinwand einen, nun ja, seltsamen Eindruck hinterlässt, wenn Brustwarzen und auf den ersten Blick rätselhafte Körperfalten in Großaufnahme zu sehen sind.
Vier sehr unterschiedliche Filme aus Deutschland hatte Dieter Kosslick in den Wettbewerb eingeladen. Sie beeindruckten die Jury um Regisseur Tom Tykwer jedoch nicht. Drei kamen bei Publikum und Kritikern gut an, der vierte, Philip Grönings „Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot“polarisierte mit seiner Länge (fast drei Stunden), seinen Heidegger-Zitaten („Der Sinn des Seins ist die Zeit“) und seiner Wandlung vom philosophischen Diskurs zu einem Gewaltausbruch im letzten Drittel. Ein Film, der Konventionen mit Vorsatz unterläuft, der bewusst sperrig ist und, wie Gröning in der Pressekonferenz ironisch meinte, „nicht der Sommerhit wird“. Bislang hat er leider nicht einmal ein Startdatum fürs Kino.
Am letzten Wettbewerbstag hatte sich „In den Gängen“von Thomas Stuber in die Herzen vieler Zuschauer gespielt. Eine leise Tragikomödie über Wendeverlierer, die sich in einem ostdeutschen Großmarkt durchschlagen, Loser und solche, die vielleicht ein kleines Glück schaffen. Neben dem großartig-reduzierten Spiel von Franz Rogowski, Peter Kurth und Sandra Hüller sind es die magischen Gabelstapler des Markts, die die vierte Hauptrolle, ja, stemmen und sogar Ballett tanzen.
Favorit war für einige Tage „Transit“, ebenfalls mit Rogowski als Hauptdarsteller und von Christian Petzold inszeniert. Petzold verlegte die Handlung nach Anna Seghers Roman von 1944 in eine merkwürdige Gegenwart. Nach wie vor sind es deutsche Faschisten, die in ein Frankreich einfallen, das aber das von heute ist. Der Pass des fliehenden Intellektuellen Georg ist in altdeutscher Schrift verfasst, durch Marseille fahren aber moderne Autos. Und es leben Flüchtlinge von heute dort, Migranten aus Afrika. Damit schafft Petzold einen Spagat zwischen gestern und heute, verschafft seinem Film eine beklemmende Aktualität.
Programm mit wenig Höhepunkten „3 Tage in Quiberon“schließlich, Emily Atefs Film über das legendäre „Stern“-Interview mit Romy Schneider von 1981, ist eine Art Reenactment, nachgestellte Geschichte also. Marie Bäumer spielt ihre Ähnlichkeit mit der großen Akteurin voll aus und wirft sich mit Verve in ihre Figur, deren Zerbrechlichkeit und Offenheit von einem skrupellos-schmierigen Journalisten ausgenutzt wird. In jenem Jahr war der Star am Tiefpunkt, privat, finanziell und künstlerisch. Zu ihrem Unglück musste sie in dieser Situation an einen wie Michael Jürgs geraten, der sich schamlos an sie heranwanzt, sich wie ihr Psychotherapeut aufführt, um ihr privateste Bekenntnisse abzupressen.
Doch leider hatte die Jury für alle diese Qualitäten keinen Blick – warum, lässt sich nur erraten. Der Gewinnerfilm wird sich jedenfalls einreihen in die Siegerfilme der vergangenen Jahre, die es an den Kinokassen sehr schwer hatten und nur unter Fachleuten Verbreitung finden.
Was bleibt sonst von der Berlinale 2018? Ein insgesamt mittlerer Wettbewerbsjahrgang mit wenigen Höhepunkten und einigen Ausfällen, dafür mit immerhin vielen starken Frauenrollen, und einem nach wie vor riesigen Publikumszuspruch: Erneut fanden mehr als 300 000 Zuschauer den Weg in die Festival-Kinos. Das freute nicht nur Leiter Dieter Kosslick, der sich gelassen auf sein letztes Amtsjahr vorbereiten kann und schon an seiner Autobiografie arbeitet, die im Herbst erscheinen soll.
Im Vorfeld der Berlinale war der langjährige Chef, der 2019 seinen letzten Wettbewerb kuratiert, unter teils heftigen, auch persönlichen Beschuss geraten – als hätte er die Berlinale, nach Cannes und neben Venedig eines der drei großen Filmfestivals der Welt, an den Rand des Abgrunds geführt. Das Gegenteil ist der Fall: Die Berlinale war auch in ihrem 68. Jahrgang lebendig und diskursiv, selbst abseitige Produktionen aus kleinen Ländern, von unbekannten Autoren und ohne Stars, waren ausverkauft.
Ein Nachfolger Kosslicks soll bis zum Sommer gefunden werden. Es scheint sich eine Doppelspitze aus künstlerischer und finanzieller Leitung abzuzeichnen. Damit wären auch neue Strukturen verbunden. Weitere Veränderungen stehen an. Das Festival und das Land Berlin denken an den Neubau eines Berlinale-Hauses neben dem Martin-Gropius-Bau, in dem die Verwaltung, der große Premierensaal und das Filmmuseum Platz finden können. Der jetzige Palast am Marlene-Dietrich-Platz steht ohne MusicalNutzung unterm Jahr leer und sieht einer unsicheren Zukunft entgegen.