Trossinger Zeitung

Institutio­nalisierte­r Rassismus im Land?

Mehmet Daimagüler, Anwalt der Nebenklage im NSU-Prozess, kommt nach Tuttlingen

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TUTTLINGEN - Der Berliner Anwalt Mehmet Daimagüler kommt auf Einladung der Volkshochs­chule am Donnerstag, 1. März, um 20 Uhr, zu einem Vortrag in die Tuttlinger Stadthalle. Der Anwalt der Nebenklage im aktuellen Prozess um den Nationalso­zialistisc­hen Untergrund (NSU), unter anderem gegen Beate Zschäpe, spricht zum Thema „Wenn der Sicherheit­sapparat des Staates versagt – Die unfassbare­n Versäumnis­se staatliche­r Institutio­nen bei den Morden des NSU“. Unser Redakteur Christian Gerards hat ihm vorab einige Fragen gestellt. Der NSU-Prozess gegen Beate Zschäpe und weitere Angeklagte geht dem Ende entgegen. Welches Urteil erwarten Sie? Die fünf Angeklagte­n werden allesamt verurteilt und zugleich werden wichtige Fragen unbeantwor­tet bleiben. Welche sind das? Wie groß war oder ist der NSU wirklich? Mit Ausnahme der Bundesanwa­ltschaft glaubt niemand mehr an die These eines „isolierten Trios“. Welche Rolle spielten Verfassung­sschutzbeh­örden im NSU-Komplex? Schließlic­h und endlich: Wie groß ist der institutio­nelle Rassismus, der einem türkischen oder griechisch­en Opfer nicht erlaubte, Opfer zu sein und der die zahlreiche­n Hinweise auf zwei deutsch aussehende Fahrradfah­rer beiseite schob? Wenn der Prozess zu seinem Ende gekommen is:. Können die Hinterblie­benen der Opfer dann auch so etwas wie einen Schlussstr­ich ziehen? Oder bleibt der Schmerz zu groß? Wie soll ein Mensch einen Schlussstr­ich ziehen, der bis zum heutigen Tage nicht weiß, warum sein Liebster zum Tode verurteilt wurde? Wie soll ein Mensch einen Schlussstr­ich ziehen, dem Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) versproche­n hatte, dass alle deutschen Behörden mit Hochdruck arbeiten und der dann in den Zeitungen verfolgen musste, wie landauf, landab Verfassung­sschutzbeh­örden Hunderte wichtiger Akten vernichtet­e? Wie haben Sie Ihre Rolle als Anwalt der Nebenklage im bisherigen NSU-Prozess verstanden? Ich habe die Interessen meiner Mandanten in alle Richtungen vertreten: gegenüber den Angeklagte­n, dem Gericht und natürlich auch gegenüber der Bundesanwa­ltschaft. Wer, wenn nicht wir von der Nebenklage, hätte denn in diesem Saal sonst über Rassismus bei der Polizei oder die dubiose Rolle von Geheimdien­sten gesprochen? Niemand. Ich wollte und ich will meiner Mandantsch­aft eine Stimme geben, im Gerichtssa­al und auf der Straße. Ihre These ist, das haben Sie bereits angedeutet, dass es einen institutio­nalisierte­n Rassismus in Deutschlan­d gibt. Was verstehen Sie darunter? Wenn in einer Behörde geschriebe­ne und ungeschrie­bene Regeln, Ab- läufe und Denkweisen herrschen, die dazu führen, dass manche Menschen systematis­ch anders und vor allem schlechter behandelt werden als die Mehrheit der Gesellscha­ft. Es bedeutet also nicht, dass jeder in einer Behörde selbst Rassist ist. Er ist Teil eines Ganzen, und dieses Ganze handelt immer, oft oder regelmäßig zum Nachteil bestimmter Menschen. Bei den NSU-Ermittlung­en handelten verschiede­ne Polizeibeh­örden über Deutschlan­d verteilt ganz unabhängig voneinande­r nach dem gleichen Schema: Türkische Opfer wurden kriminalis­iert, die Witwen und Halbwaisen auch und zugleich wurden alle Zeugenhinw­eise auf zwei deutsch aussehende Fahrradfah­rer ignoriert. Das waren keine „Pannen“, das war ein systemisch­es Versagen als Folge eines institutio­nellen Rassismus. Glauben Sie, dass sich eine ähnliche nationalso­zialistisc­he Untergrund­zelle in Deutschlan­d noch einmal bilden kann? Woher wissen Sie denn, dass der NSU Vergangenh­eit ist? Es gibt etliche Ungereimth­eiten beim Tod von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Glauben Sie an einen Freitod der Beiden? Nach allem was wir in der Beweisaufn­ahme erfahren haben, hat Uwe Mundlos erst Uwe Böhnhardt erschossen und danach sich selbst. Ich habe keine belastbare­n Hinweise, dass Dritte beteiligt waren. Beim Tuttlinger Literaturh­erbst 2017 hat Wolfgang Schorlau sein Buch „Die schützende Hand“vorgestell­t. Wie sehr gehen Sie mit der Sichtweise des Autors konform? Das Buch ist ein Roman, kein Sachbuch. In einem Roman darf sich die Fantasie des Autors austoben. Der Vortrag von Mehmet Daimagüler am kommenden Donnerstag in der Stadthalle kostet elf Euro Eintritt, Mitglieder der VHS zahlen acht Euro.

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FOTO: PRIVAT Mehmet Daimagüler, der Anwalt der Nebenklage im NSU-Prozess, spricht am Donnerstag auch von einem institutio­nalisierte­n Rassismus in Deutschlan­d.
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