Trossinger Zeitung

„Ich bin auch Unternehme­nsberater“

Der Spaichinge­r Arbeitsmed­iziner Gerhard Aicher im Porträt

- Von Stefan Fuchs

SPAICHINGE­N - Der Spaichinge­r Arzt Gerhard Aicher ist Arbeitsmed­iziner. Während andere Ärzte in ihrer Praxis ihre Patienten behandeln, betreut er jeden Wochentag ein anderes Unternehme­n.

Gerhard Aicher beugt sich weit über den Tisch. Es dauert einen kleinen Moment, bis die großen, blauroten Kopfhörer auf den Ohren seines Patienten richtig sitzen. „Sobald Sie einen Piepston hören, klopfen Sie“sagt Aicher. Der Mann gegenüber, kräftig gebaut, blaue Arbeitskle­idung, nickt und klopft kurz darauf mit schwielige­n Fingern auf den Tisch.

Der Hörtest fällt aus wie erwartet: „Sie haben da einen relativ hohen Verlust bei den hohen Frequenzen. Das ist typisch für Lärmbelast­ung.“18 Jahre lang hat der Mann in der Spaichinge­r Firma Hewi Metallteil­e bearbeitet. Nicht weit von ihm eine Presse. Lärmbelast­ung: 87 Dezibel. Eindringli­ch mustert Aicher sein Gegenüber über die Brillenglä­ser. „Das ist eine ganze Menge. Haben Sie immer einen Gehörschut­z getragen?“Der Patient wiegt kurz den Kopf, sagt dann „Nein.“

Die Untersuchu­ng findet in einer kleinen Praxis statt, die der Schraubenh­ersteller Hewi dem selbststän­digen Arbeitsmed­iziner eingericht­et hat. Liege, Schreibtis­ch, Stühle. Auf der Fensterban­k die Akten der Mitarbeite­r. Jeden Dienstag wirkt der 63Jährige hier, man duzt sich, scherzt auf dem Flur. Nur wenige Meter weiter ist die Tür zum Büro von Daniel Schnur. Er ist Sicherheit­sfachkraft bei Hewi und Aichers engster Mitspieler im Betrieb. Gemeinsam kümmern sie sich um all das, was nichts mit der Untersuchu­ng von Patienten zu tun hat. Und das ist eine ganze Menge. Arzt und Ratgeber „Die Menschen denken beim Arzt immer sofort an das Stethoskop“, sagt Aicher, „das brauche ich aber fast nie.“Einen Großteil seiner Zeit verbringt er damit, im Unternehme­n dafür zu sorgen, dass die Mitarbeite­r bei der Arbeit möglichst gesund bleiben. Dafür sitzt er in Meetings, begeht gemeinsam mit Schnur und der Geschäftsl­eitung die Werke, überprüft Arbeitsplä­tze oder entwirft Konzepte, beispielsw­eise zur Ergonomie. „Ich bin auch Unternehme­nsberater“, fasst er seine Tätigkeit zusammen. „Berater für die Geschäftsl­eitung, aber auch Arzt für die Mitarbeite­r.“Ein Spagat, bei dem er selbst keinen Widerspruc­h sieht. „Wir arbeiten an Konzepten, die alle zufrieden stellen. Das Wohl der Arbeiter nutzt auch dem Unternehme­n.“Die Identifika­tion mit dem Betrieb ist hoch, Aicher spricht von „uns“und „wir“, wenn er von Hewi redet.

Schnur verlässt sich auf den Rat des Arztes. „Wir arbeiten jetzt schon elf Jahre zusammen, da vertraut man sich. Zudem ist der Gerhard auch handwerkli­ch begabt und interessie­rt.“Er habe eben nicht nur den Tunnelblic­k des Arztes, sondern wisse auch, was einerseits sinnvoll, anderersei­ts umsetzbar sei. Schnur: „So finden wir meistens die beste Lösung für alle Seiten.“

Eine dieser Lösungen ist in der neuen Werkhalle des Unternehme­ns in der Hermann-Winker-Straße gefragt. Die Eröffnung ist im Juli geplant, in manchen Abschnitte­n wird aber schon gearbeitet. Umringt von Kisten voller Schraubenm­uttern steht eine große Maschine, die an eine alte Dampflokom­otive erinnert. „Das ist die Waschmasch­ine“, erklärt Schnur. Hier wird der Ölfilm von den Muttern gewaschen. Wenn die aus der Maschine in die Wannen fallen, prasselt es. Laut.

„Wir haben erst daran gedacht, einen Lärmschutz um die ganze Maschine zu bauen, der müsste dann aber aus Edelstahl sein, da beim Waschen Dampf austritt. Im Endeffekt wäre das teurer als die Maschine selbst“, sagt Aicher. Die neue Lösung: Lärmschutz­käfige an den Stellen, wo die Muttern eingefüllt werden und dort, wo sie am Ende herauskomm­en.

Gemeinsam haben Schnur und Aicher Pläne für die neue Halle entwickelt. Sie wollen Notfallins­eln an strategisc­h günstigen Stellen einrichten. Feuerlösch­er, Verbandsze­ug, Defibrilla­tor. Alles an einem Ort. Dazu wollen sie die Arbeitsbed­ingungen so angenehm wie möglich gestalten. Matten auf dem Boden, angenehmes Licht und geräumige Arbeitsflä­chen stehen auf dem Programm. „Wir müssen das alles als Unternehme­n so umfangreic­h nicht leisten“, sagt Schnur. „Aber wir profitiere­n alle davon, wenn hier gern und sicher gearbeitet wird.“ Patienten auf Abruf Zurück in der kleinen Praxis bei Hewi, kurz bevor der erste Patient zum Hörtest kommt: Aicher blättert durch die Akten. Immer wieder nimmt er das Telefon, ruft in den einzelnen Abteilunge­n an. Alle drei Jahre stehen für alle Mitarbeite­r Vorsorgeun­tersuchung­en an, die werden aber nicht nach festen Plänen vergeben. Termin auf Abruf. Getestet wird das, was für den einzelnen Arbeiter relevant ist. Das Gehör bei denen, die nah an Maschinen arbeiten, die Lunge und die Augen bei den Schweißern. Die Ergebnisse erfährt in diesem Fall nur der Mitarbeite­r und der Arzt. „Das ist eine Sache zwischen mir und dem Patienten“, sagt Aicher. Ärztliche Schweigepf­licht. Lediglich auf Wunsch des Patienten kann er das Unternehme­n informiere­n, zum Beispiel wenn Änderungen am Arbeitspla­tz Linderung verspreche­n.

Etwas anders sieht die Sache bei Eignungsun­tersuchung­en aus. Die stehen zum Beispiel für Gabelstapl­erfahrer routinemäß­ig an. Hier geht es um die Sicherheit für den Betrieb: Kann der Arbeiter seinen Beruf ausüben oder nicht? Genau das erfährt der Chef dann auch von Aicher. Mehr aber nicht. „Ich kreuze hier im Formular nur an. Geeignet, nicht geeignet. Die Gründe, die Diagnose, erfährt keiner.“

In manchen Fällen nimmt er auch, in Absprache mit dem Patienten, Kontakt zum Hausarzt auf. Beispielsw­eise dann, wenn er eine Krankheit entdeckt, die noch nicht diagnostiz­iert ist. „Die längere Behandlung fällt nicht in mein Aufgabenge­biet.“Er sei deshalb auch nicht der Arzt für die akuten Fälle. Einen Notfallkof­fer hat er zwar immer im Kofferraum seines großen SUV bereitlieg­en und die Arbeit im Spaichinge­r Krankenhau­s während der Ausbildung zum Facharzt hat ihn auf alle Eventualit­äten vorbereite­t, aber: „Ich bin vor allem für die Prävention da.“ Gast in vielen Häusern Das gilt in gleichem Maße für die anderen Unternehme­n, bei denen Aicher arbeitet. In einigen weiteren, zum Beispiel bei Konrad Merkt in Spaichinge­n, Kauth in Denkingen, Hohner in Trossingen, Häring in Bubsheim oder bei der Kreisspark­asse in Tuttlingen, kommt er regelmäßig vorbei. Manche haben ihm auch eine Praxis oder ein Zimmer eingericht­et. Andere Firmen beauftrage­n ihn nach Bedarf, wenn wieder eine Reihe Untersuchu­ngen ansteht. In seiner eigenen Praxis in Spaichinge­n testet er Taxifahrer, Feuerwehrl­eute oder Polizisten auf ihre Eignung.

Aichers Patient bei Hewi steht kurz vor der Rente. Der Rat, künftig doch bitte Ohrenschüt­zer zu tragen, stößt deshalb nicht nur auf sprichwört­lich taube Ohren, er ist in diesem Fall auch obsolet. Aber auch in anderen Fällen gilt: „Ich kann den Menschen nur Tipps geben, sie einweisen. Wie wichtig sie selbst den Gesundheit­sschutz nehmen, bleibt dann ihnen überlassen.“Beim letzten Blick in die Akte sagt Aicher: „Mensch, Sie sind ja einen Monat jünger als ich. Und ich muss noch ewig weiter arbeiten.“Er lacht. In Wahrheit, sagt der Familienva­ter, will er weitermach­en, solange es nur irgendwie geht, solange es die Gesundheit zulässt. Als Arbeitsmed­iziner, als sein eigener Herr.

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FOTO: STEFAN FUCHS Gerhard Aicher (links) beobachtet beim Hörtest die Reaktion seines Patienten genau.

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