„Ich bin auch Unternehmensberater“
Der Spaichinger Arbeitsmediziner Gerhard Aicher im Porträt
SPAICHINGEN - Der Spaichinger Arzt Gerhard Aicher ist Arbeitsmediziner. Während andere Ärzte in ihrer Praxis ihre Patienten behandeln, betreut er jeden Wochentag ein anderes Unternehmen.
Gerhard Aicher beugt sich weit über den Tisch. Es dauert einen kleinen Moment, bis die großen, blauroten Kopfhörer auf den Ohren seines Patienten richtig sitzen. „Sobald Sie einen Piepston hören, klopfen Sie“sagt Aicher. Der Mann gegenüber, kräftig gebaut, blaue Arbeitskleidung, nickt und klopft kurz darauf mit schwieligen Fingern auf den Tisch.
Der Hörtest fällt aus wie erwartet: „Sie haben da einen relativ hohen Verlust bei den hohen Frequenzen. Das ist typisch für Lärmbelastung.“18 Jahre lang hat der Mann in der Spaichinger Firma Hewi Metallteile bearbeitet. Nicht weit von ihm eine Presse. Lärmbelastung: 87 Dezibel. Eindringlich mustert Aicher sein Gegenüber über die Brillengläser. „Das ist eine ganze Menge. Haben Sie immer einen Gehörschutz getragen?“Der Patient wiegt kurz den Kopf, sagt dann „Nein.“
Die Untersuchung findet in einer kleinen Praxis statt, die der Schraubenhersteller Hewi dem selbstständigen Arbeitsmediziner eingerichtet hat. Liege, Schreibtisch, Stühle. Auf der Fensterbank die Akten der Mitarbeiter. Jeden Dienstag wirkt der 63Jährige hier, man duzt sich, scherzt auf dem Flur. Nur wenige Meter weiter ist die Tür zum Büro von Daniel Schnur. Er ist Sicherheitsfachkraft bei Hewi und Aichers engster Mitspieler im Betrieb. Gemeinsam kümmern sie sich um all das, was nichts mit der Untersuchung von Patienten zu tun hat. Und das ist eine ganze Menge. Arzt und Ratgeber „Die Menschen denken beim Arzt immer sofort an das Stethoskop“, sagt Aicher, „das brauche ich aber fast nie.“Einen Großteil seiner Zeit verbringt er damit, im Unternehmen dafür zu sorgen, dass die Mitarbeiter bei der Arbeit möglichst gesund bleiben. Dafür sitzt er in Meetings, begeht gemeinsam mit Schnur und der Geschäftsleitung die Werke, überprüft Arbeitsplätze oder entwirft Konzepte, beispielsweise zur Ergonomie. „Ich bin auch Unternehmensberater“, fasst er seine Tätigkeit zusammen. „Berater für die Geschäftsleitung, aber auch Arzt für die Mitarbeiter.“Ein Spagat, bei dem er selbst keinen Widerspruch sieht. „Wir arbeiten an Konzepten, die alle zufrieden stellen. Das Wohl der Arbeiter nutzt auch dem Unternehmen.“Die Identifikation mit dem Betrieb ist hoch, Aicher spricht von „uns“und „wir“, wenn er von Hewi redet.
Schnur verlässt sich auf den Rat des Arztes. „Wir arbeiten jetzt schon elf Jahre zusammen, da vertraut man sich. Zudem ist der Gerhard auch handwerklich begabt und interessiert.“Er habe eben nicht nur den Tunnelblick des Arztes, sondern wisse auch, was einerseits sinnvoll, andererseits umsetzbar sei. Schnur: „So finden wir meistens die beste Lösung für alle Seiten.“
Eine dieser Lösungen ist in der neuen Werkhalle des Unternehmens in der Hermann-Winker-Straße gefragt. Die Eröffnung ist im Juli geplant, in manchen Abschnitten wird aber schon gearbeitet. Umringt von Kisten voller Schraubenmuttern steht eine große Maschine, die an eine alte Dampflokomotive erinnert. „Das ist die Waschmaschine“, erklärt Schnur. Hier wird der Ölfilm von den Muttern gewaschen. Wenn die aus der Maschine in die Wannen fallen, prasselt es. Laut.
„Wir haben erst daran gedacht, einen Lärmschutz um die ganze Maschine zu bauen, der müsste dann aber aus Edelstahl sein, da beim Waschen Dampf austritt. Im Endeffekt wäre das teurer als die Maschine selbst“, sagt Aicher. Die neue Lösung: Lärmschutzkäfige an den Stellen, wo die Muttern eingefüllt werden und dort, wo sie am Ende herauskommen.
Gemeinsam haben Schnur und Aicher Pläne für die neue Halle entwickelt. Sie wollen Notfallinseln an strategisch günstigen Stellen einrichten. Feuerlöscher, Verbandszeug, Defibrillator. Alles an einem Ort. Dazu wollen sie die Arbeitsbedingungen so angenehm wie möglich gestalten. Matten auf dem Boden, angenehmes Licht und geräumige Arbeitsflächen stehen auf dem Programm. „Wir müssen das alles als Unternehmen so umfangreich nicht leisten“, sagt Schnur. „Aber wir profitieren alle davon, wenn hier gern und sicher gearbeitet wird.“ Patienten auf Abruf Zurück in der kleinen Praxis bei Hewi, kurz bevor der erste Patient zum Hörtest kommt: Aicher blättert durch die Akten. Immer wieder nimmt er das Telefon, ruft in den einzelnen Abteilungen an. Alle drei Jahre stehen für alle Mitarbeiter Vorsorgeuntersuchungen an, die werden aber nicht nach festen Plänen vergeben. Termin auf Abruf. Getestet wird das, was für den einzelnen Arbeiter relevant ist. Das Gehör bei denen, die nah an Maschinen arbeiten, die Lunge und die Augen bei den Schweißern. Die Ergebnisse erfährt in diesem Fall nur der Mitarbeiter und der Arzt. „Das ist eine Sache zwischen mir und dem Patienten“, sagt Aicher. Ärztliche Schweigepflicht. Lediglich auf Wunsch des Patienten kann er das Unternehmen informieren, zum Beispiel wenn Änderungen am Arbeitsplatz Linderung versprechen.
Etwas anders sieht die Sache bei Eignungsuntersuchungen aus. Die stehen zum Beispiel für Gabelstaplerfahrer routinemäßig an. Hier geht es um die Sicherheit für den Betrieb: Kann der Arbeiter seinen Beruf ausüben oder nicht? Genau das erfährt der Chef dann auch von Aicher. Mehr aber nicht. „Ich kreuze hier im Formular nur an. Geeignet, nicht geeignet. Die Gründe, die Diagnose, erfährt keiner.“
In manchen Fällen nimmt er auch, in Absprache mit dem Patienten, Kontakt zum Hausarzt auf. Beispielsweise dann, wenn er eine Krankheit entdeckt, die noch nicht diagnostiziert ist. „Die längere Behandlung fällt nicht in mein Aufgabengebiet.“Er sei deshalb auch nicht der Arzt für die akuten Fälle. Einen Notfallkoffer hat er zwar immer im Kofferraum seines großen SUV bereitliegen und die Arbeit im Spaichinger Krankenhaus während der Ausbildung zum Facharzt hat ihn auf alle Eventualitäten vorbereitet, aber: „Ich bin vor allem für die Prävention da.“ Gast in vielen Häusern Das gilt in gleichem Maße für die anderen Unternehmen, bei denen Aicher arbeitet. In einigen weiteren, zum Beispiel bei Konrad Merkt in Spaichingen, Kauth in Denkingen, Hohner in Trossingen, Häring in Bubsheim oder bei der Kreissparkasse in Tuttlingen, kommt er regelmäßig vorbei. Manche haben ihm auch eine Praxis oder ein Zimmer eingerichtet. Andere Firmen beauftragen ihn nach Bedarf, wenn wieder eine Reihe Untersuchungen ansteht. In seiner eigenen Praxis in Spaichingen testet er Taxifahrer, Feuerwehrleute oder Polizisten auf ihre Eignung.
Aichers Patient bei Hewi steht kurz vor der Rente. Der Rat, künftig doch bitte Ohrenschützer zu tragen, stößt deshalb nicht nur auf sprichwörtlich taube Ohren, er ist in diesem Fall auch obsolet. Aber auch in anderen Fällen gilt: „Ich kann den Menschen nur Tipps geben, sie einweisen. Wie wichtig sie selbst den Gesundheitsschutz nehmen, bleibt dann ihnen überlassen.“Beim letzten Blick in die Akte sagt Aicher: „Mensch, Sie sind ja einen Monat jünger als ich. Und ich muss noch ewig weiter arbeiten.“Er lacht. In Wahrheit, sagt der Familienvater, will er weitermachen, solange es nur irgendwie geht, solange es die Gesundheit zulässt. Als Arbeitsmediziner, als sein eigener Herr.