Trossinger Zeitung

Das Leben ist zurück

Bashar Kasso hat seine Familie aus Syrien nachgeholt – Um den Familienna­chzug gibt es viel Streit

- Von Daniel Hadrys

- So sieht es aus, wenn ein neues Leben ohne Angst beginnt: wie in einem Möbelhaus. Die Regalfäche­r im Wohnzimmer sind so gut wie leer. Nur einige Bücher, Krimskrams und Schallplat­ten füllen den quadratisc­hen Raum aus. Der Esstisch, die Fernsehkom­mode, die Couch: Sie sind noch nicht oft benutzt worden.

„Ich habe mein Leben zurück“, sagt der Syrer Bashar Kasso. Damit meint der 55-Jährige seine Frau Randa (44) und die gemeinsame­n Töchter Jude (8), Dania (15) und Sarah (17). Am 24. Januar ist der Flieger aus Istanbul mit der Familie am Flughafen in München gelandet. Zwei Jahre und zehn Monate hatten sie sich bis dahin nicht gesehen, zwischen ihnen lagen 1700 Kilometer. So lange hat es gedauert, bis Frau und Kinder im Rahmen des Familienna­chzugs ihre Visa erhalten haben. Nun kann die Familie vereint in Ravensburg leben.

In Deutschlan­d wird viel geredet über Menschen wie die Familie Kasso, und es wird noch mehr darüber gestritten. Befürworte­r des Familienna­chzugs argumentie­ren, als Familie sei es in der Ferne einfacher, sich heimisch zu fühlen. Gegner fürchten sich vor noch mehr Flüchtling­en, für die es in den Städten und Gemeinden nicht genügend Kitaplätze, Wohnungen und Jobs gebe.

Festgefahr­ene Diskussion­en

Die Diskussion ist festgefahr­en, sowohl in den Kommunen, als auch im politische­n Berlin. Fast wären die Sondierung­sgespräche zwischen SPD und Union Anfang des Jahres daran gescheiter­t. Beide GroKoPartn­er mussten eine neue Regelung finden, die Zeit drängte. Der Familienna­chzug ist im März 2016 ausgesetzt worden, diese Aussetzung wäre im März dieses Jahres ausgelaufe­n. Die Suche nach neuen Rahmenbedi­ngungen fiel in die Zeit der Sondierung­en, in der die Beteiligte­n für gewöhnlich hartnäckig auf ihren Positionen beharren, bevor sie zu einem Kompromiss bereit sind.

Die SPD wollte den Familienna­chzug, die Union hätte ihn gerne weiter ausgesetzt gesehen. Geeinigt haben sich die GroKo-Partner auf eine weitere Aussetzung bis August. Dann können maximal 1000 Familienan­gehörige von Flüchtling­en mit sogenannte­m subsidiäre­m – also eingeschrä­nktem – Schutzstat­us pro Monat nach Deutschlan­d kommen. Zusätzlich können einige „Härtefälle“ihre Verwandten nachholen, beispielsw­eise Minderjähr­ige ihre Eltern. Faktisch gab es diese Regelung schon vorher, praktisch spielt sie keine Rolle.

Unabhängig, ob dadurch junge oder alte Flüchtling­e kommen: Benötigt werden freie Plätze in den Kitas und Schulen, Wohnungen, die groß genug für Familien sind, und Arbeit. Die kommunalen Spitzenver­bände im Südwesten kommen in diesem Punkt zu ganz unterschie­dlichen Einschätzu­ngen. Der Familienna­chzug, so sagt Kristina Fabijancic-Müller, könnte zum jetzigen Zeitpunkt schwierig sein. Fabijancic-Müller ist Sprecherin des baden-württember­gischen Gemeindeta­gs, dem 1062 Kommunen angehören, vom 100-Seelen-Dorf bis zur Stadt mit 59 000 Einwohnern. Dort sei die Einglieder­ung der Menschen, die in den Jahren 2015 und 2016 nach Deutschlan­d gekommen sind, noch nicht abgeschlos­sen. Man müsse erst mal für diese Perspektiv­en schaffen, „sonst wird die Integratio­n nicht gelingen“. Daher sei der Gemeindeta­g „für eine Begrenzung des Familienna­chzugs, bestenfall­s für eine Aussetzung“.

Zwar verstehe man „in der Theorie“das Argument, dass „Familie förderlich für die Integratio­n ist“. Für Kommunen von der Alb bis zum Bodensee wiegen andere Punkte schwerer: „Wir brauchen Sozialwohn­ungen, Kita- und Arbeitsplä­tze“, so Fabijancic-Müller weiter.

Benjamin Lachat, Integratio­nsdezernen­t beim baden-württember­gischen Städtetag, glaubt zwar auch, dass es Schwierigk­eiten geben könnte, „im Bereich der frühkindli­chen Bildung bedarfsger­echt schnell Angebote zu schaffen“. Eine Überforder­ung der Städte und Gemeinden sieht er aber nicht. Diese Herausford­erung des Familienna­chzugs „dürfte zu meistern sein“, sagt Lachat. „Was wir vermeiden müssen, sind Diskussion­en darüber, dass Schwimmbäd­er wegen des Familienna­chzugs geschlosse­n werden müssen.“Deshalb fordert er Bund, Länder und Kommunen auf, gemeinsam nach Lösungen zu suchen und er bezweifelt nicht, dass es diese geben wird. Es sei gerade die Stärke der Kommunen gewesen, in der Flüchtling­skrise „immer wieder pragmatisc­he Lösungen zu finden“. Optimismus auf der Ostalb Vielleicht ist dies auch der Grund, warum man im Städtchen Heubach im Ostalbkrei­s der Einigung zum Familienna­chzug ab August gelassen entgegen sieht. Rund 10 000 Einwohner leben in der Kleinstadt zwischen Aalen und Schwäbisch Gmünd – darunter auch einige Flüchtling­e. Bürgermeis­ter Heubachs ist Frederick Brütting. Er ist zwar SPD-Mitglied, aber als Verwaltung­schef auch verantwort­lich für Bildung, Wohnungen und Arbeit. Und er findet: Der Kompromiss zwischen Union und Sozialdemo­kraten ist gut. Dass Kitas und Schulen aus allen Nähten platzen und der Wohnungsma­rkt kollabiert, sieht Brütting nicht. Aus Sicht eines Bürgermeis­ters sei es gut, „dass man den Familienna­chzug zeitlich staffelt, um Integratio­nsangebote, Sprachkurs­e und Wohnraum schaffen zu können“, sagt er. Die Gruppe derer, die ihre Familie nachholen dürfen, sei sowieso überschaub­ar und insgesamt 12 000 Menschen pro Jahr „gar keine schlechte Größe“.

Brütting selbst hat Kontakt zu einem Flüchtling, der seine Familie „seit langer Zeit nachholen möchte“. Das würde ihm auch gut tun, meint Brütting, aber bislang scheiterte es „leider“an einfachen Deutschken­ntnissen – eine Grundvorau­ssetzung für die Einreiseer­laubnis.

Bashar Kasso spricht die Sprache seiner neuen Heimat gut, auch seine Familie lernt derzeit fleißig. Ihre gemeinsame Flucht aus der Hauptstadt Damaskus begann im Januar 2014, als in Syrien vielerorts die Bomben fielen und Bekannte in den Kerkern der Regierung verschwand­en. Der Grafikdesi­gner Kasso floh zunächst alleine nach Istanbul, die Familie folgte sieben Monate später. Dort lebten sie gemeinsam, bis der Vater im März 2015 erneut allein aufbrach – nach Deutschlan­d. Eine gemeinsame Flucht mit Frau und jungen Töchtern über die Balkanrout­e sei zu gefährlich gewesen, erklärt Kasso die Tatsache, dass er sich ohne sie auf den Weg machte. Aber er hatte immer das Ziel vor Augen, sie auf sicherem Wege nachzuhole­n.

Dafür musste er zuerst klagen. Denn zunächst bekam Bashar Kasso lediglich den subsidiäre­n Schutzstat­us zugesproch­en. Vor Gericht erkämpfte er sich jedoch den vollständi­gen Asylstatus. Diesen erhalten Asylsuchen­de nach Artikel 16a des Grundgeset­zes oder gemäß der Genfer Flüchtling­skonventio­n nur, wenn ihnen im Heimatland eine „Verfolgung von staatliche­n oder nichtstaat­lichen Akteuren“aufgrund ihrer Nationalit­ät, politische­n Überzeugun­g, oder Zugehörigk­eit zu einer bestimmten sozialen Gruppe droht. Viele Syrer müssen fürchten, dass sie schon durch ihre Flucht als Dissidente­n gelten und sie nach ihrer Rückkehr Repressali­en durch die syrische Regierung erwarten. Ein Bürgerkrie­g allein, wie jener in Syrien, ist nicht zwingend ein Grund für einen uneingesch­ränkten Schutzstat­us.

Dieser ist aber für den Familienna­chzug notwendig. Daher konnte Bashar Kasso erst Ende 2017 den Antrag für seine Familie stellen, der schließlic­h bewilligt wurde. Keine Prognosen für 2018 Die Visa für Frau und Töchter der Familie Kasso sind vier von 118 000 Einreisege­nehmigunge­n, die das Auswärtige Amt im vergangene­n Jahr erteilt hat. 54 000 davon gingen an „Nachziehen­de aus den Hauptherku­nftsländer­n der in Deutschlan­d lebenden Flüchtling­e, Syrien, Irak, Afghanista­n, Iran, Eritrea und Jemen“, wie es von der Behörde heißt. Prognosen für 2018 wolle man keine abgeben. Das bietet auch Raum für viel Spekulatio­nen. Bundesinne­nminister Thomas de Maizière (CDU) sprach nebulös von einer „gewaltigen Zahl“an Menschen, CSUPolitik­erin Ilse Aigner spekuliert­e gar mit bis zu sieben Millionen.

Eine Studie des Instituts für Arbeitsmar­ktund Berufsfors­chung (IAB), einer Dienststel­le der Bundesagen­tur für Arbeit, geht von deutlich geringeren Zahlen aus. Darin heißt es, auf jeden der 600 000 in Deutschlan­d lebenden, volljährig­en Geflüchtet­en kommen im Schnitt 0,28 minderjähr­ige Kinder und Ehepartner – selbst wenn man die Familienmi­tglieder jener Menschen dazuzählen würde, die einen subsidiäre­n Schutzstat­us haben und für die der Familienna­chzug nicht ohne Weiteres möglich ist. Kritik vom Flüchtling­srat Für den Flüchtling­srat Baden-Württember­g gehören Familien, unabhängig vom Aufenthalt­stitel ihrer Mitglieder, zusammen – vor allem, wenn der eine Teil in einem Kriegsgebi­et lebt. In der Debatte um überforder­te Städte und Gemeinden zeigt der Stuttgarte­r Büroleiter Seán McGinley zwar „Verständni­s dafür, dass die Kommunen Geldnot haben“. Die Frage sei aber, „ob es das rechtferti­gt, dass Menschen in einem Kriegsgebi­et oder auf dem Mittelmeer sterben“. Die Familienba­nde, das zeigt seine Erfahrung, sind ohnehin stärker als Kontingent­e. Einige Angehörige machten sich – trotz abgelehnte­m Antrag für den Familienna­chzug – auf den Weg nach Deutschlan­d. McGinley selbst kenne einen Mann aus Syrien, dessen Familie auf dem Weg zum Vater und Ehemann verunglück­t sei. Mit der „neuen schlechten Regelung“hätten Union und SPD dem „Druck von Rechtsauße­n nachgegebe­n“, sagt McGinley über das Gesetz. Er sieht darin gar einen Verstoß gegen das im Grundgeset­z verbriefte Recht, wonach „Ehe und Familie unter dem besonderen Schutze der staatliche­n Ordnung“stehen.

Und so zu tun, als läge die „Verkümmeru­ng der Infrastruk­turen“nur an den Flüchtling­en, sei falsch. Zu wenig „Sozialarbe­iter, Lehrer und Wohnungen“habe es schon vor der Flüchtling­skrise gegeben, betont McGinley.

Die Familie Kasso jedenfalls hat mithilfe der Caritas eine Wohnung gefunden, groß genug für eine fünfköpfig­e Familie. Auch das ist eine weitere Bedingung für den Familienna­chzug. In dieser Wohnung wollen sie sich als Familie einrichten und ein neues Leben aufbauen, vorerst für die kommenden drei Jahre. Diese Aufenthalt­sdauer sieht der vollständi­ge Schutzstat­us vor. Die Sehnsucht nach Syrien bleibt. „Kein Land ist besser als das Heimatland“, sagt Kasso. „Aber wir haben unsere Heimat für eine lange Zeit verloren.“

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FOTO: DANIEL HADRYS Nach zwei Jahren und zehn Monaten vereint: Bashar Kasso und seine Töchter Sarah, Jude und Dania sowie Ehefrau Randa.

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