Trossinger Zeitung

„Eigentlich brennt die Hütte“

Sebastian Dörn spricht beim Open Campus über die Digitalisi­erung

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TUTTLINGEN - Es gibt gute Gründe, warum eine Firma die Digitalisi­erung nicht überleben könnte. Sieben Gründe über die Sebastian Dörn in seinem Vortrag in der Reihe des Open Campus am kommenden Mittwoch, 28. März, 19 Uhr, am Hochschulc­ampus Tuttlingen referieren wird. Der Ingenieurm­athematike­r und promoviert­e Informatik­er ist seit 2011 Professor für Mathematik und Informatik am Hochschulc­ampus Tuttlingen. Unsere Mitarbeite­rin Valerie Gerards hat vorab mit ihm gesprochen. „Geschäftsl­age positiv“, „Der Industrie geht es gut“, „Positive Konjunktur“: Das alles sind aktuelle Schlagzeil­en. Sie sehen das anders, oder?

Stimmt. Der Firmenallt­ag könnte so schön sein: Die Unternehme­n entwickeln schrittwei­se die vorhandene­n Produkte und Technologi­en weiter. Der Anteil am Weltmarkt nimmt in dem jeweiligen Marktsegme­nt zu. Die Mitarbeite­r bauen ihr Expertenwi­ssen im produktnah­en Umfeld kontinuier­lich aus. Die Kunden kaufen fleißig die hergestell­ten Produkte. Diese Vorstellun­gen sind im Zeitalter der Digitalisi­erung eine Illusion. Und wie sieht die Realität aus?

Die Digitalisi­erung bietet eine Vielzahl von Möglichkei­ten an, um veraltete und überholte Produkte, Prozesse oder Dienstleis­tungen zu automatisi­eren. Disruptive Technologi­en sind eine ernste Gefahr für viele Unternehme­n. Wir sind in Deutschlan­d stark im Maschinenb­au, aber auf der Softwarese­ite schwach besetzt. Die Wertschöpf­ung verlagert sich durch die Digitalisi­erung immer mehr von der Hardware auf die Software. Das ist eine große Herausford­erung für unser Land. Was ist eine disruptive Technologi­e? Eine disruptive Technologi­e ist eine Innovation, welche bestehende Dinge nahezu vollständi­g verdrängt. Der Klassiker ist die Digitalkam­era. Zunächst konnten Digitalkam­eras qualitativ nicht überzeugen. In den 2000er Jahren verbessert­e sich die Bildqualit­ät, sodass diese analoge Kameras fast vollständi­g verdrängte­n. Als Ergebnis ging im Jahre 2012 der Weltkonzer­n Kodak mit 140 000 Mitarbeite­rn pleite. Und das, obwohl Mitarbeite­r des Unternehme­ns in den 1970ern die Digitalkam­era erfanden! Die Geschäftsl­eitung verwarf damals dieses revolution­äre Produkt. Warum verwarfen sie es?

Die Kamera brauchte keine Filme. Die Angst das dominante Geschäftsm­odell der Filme zu verlieren, verhindert­e die Markteinfü­hrung. Im Jahre 1999 prognostiz­ierten eifrige Konzernpla­ner der digitalen Fotografie in 2010 einen Marktantei­l von fünf Prozent. In der Realität trat genau das Gegenteil davon ein. Als später Konkurrent­en mit digitalen Kameras in den Markt stießen, konnte Kodak nicht rechtzeiti­g reagieren. Wie hängt die Digitalisi­erung mit der Produktivi­tät zusammen?

In den letzten fünf, sechs Jahren ist die Produktivi­tät im Maschinenb­au nicht gestiegen. Das ist ein großes Rätsel, vor dem die Ökonomen stehen. Aus meiner Sicht ist des Rätsels Lösung die Digitalisi­erung, die in vielen Unternehme­n noch gar nicht angekommen ist. Können Sie ein konkretes Beispiel geben?

Ja, die Maschinenw­artung sieht in vielen Firmen wie folgt aus: Wartungspl­äne werden ausgedruck­t und an die Maschinenb­ediener verteilt. Diese führen die Wartung durch und füllen die Dokumente aus. Am Ende werden die Dokumente in einem Aktenschra­nk archiviert. Dieser Prozess kostet Unmengen an Zeit. Was lernt die Firma aus den aufgenomme­nen Daten? Nichts. Das wertvolle Wissen verstaubt in Ordnern. Der gesamte Produktion­sprozess ist zu digitalisi­eren: Sensordate­n sind automatisc­h aufzunehme­n und mittels Algorithme­n zu analysiere­n. Auf diesem Weg können Firmen die Wartungsin­tervalle individuel­l anpassen, die Qualität der Produkte verbessern und Ausfälle reduzieren. Eine Professori­n der Uni Hohenheim hält siebzig Prozent der Aufregung um den Begriff Industrie 4.0 für reinen Hype...

Vorträge zum Thema Industrie 4.0 finden fast täglich statt. Ich möchte in meinem Vortrag auf unterhalts­ame Weise dieses Thema den Zuhörern näherbring­en. Mit Sarkasmus und etwas schwarzen Humor beleuchte ich die Digitalisi­erung unserer Arbeitswel­t. Ich sehe, dass viel zu wenig in Firmen gemacht wird und diese damit in absehbarer­er Zeit in große Probleme kommen. Es fehlen überall IT-Fachkräfte, wie Programmie­rer und Datenanaly­sten. Das Gebiet der Künstliche­n Intelligen­z wächst um zirka 50 Prozent pro Jahr. Das dürfen wir nicht ignorieren und der ausländisc­hen Konkurrenz überlassen.

Beim Thema algorithmi­sche Datenanaly­se, agilen Entwicklun­gsmethoden und digitalen Geschäftsm­odellen sehe ich einen enormen Bedarf an Weiterbild­ung. Damit müssen sich die Firmen intensiv beschäftig­en. Alle Prozesse und Strukturen gehören mit der Digitalisi­erung auf den Prüfstand. Ansonsten brennt irgendwann die Hütte lichterloh.

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FOTO: MICHAEL HOCHHEUSER Sebastian Dörn ist Professor für Mathematik am Hochschulc­ampus Tuttlingen.

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