Trossinger Zeitung

Bluttat wegen eines Rüttelsieb­s

Der Alkohol verändert 66-jährigen Wehinger so, dass er 78-jährigen Nachbarn erschießt

- Von Regina Braungart

WEHINGEN - Im Oktober 1989 erschütter­t eine Bluttat Wehingen: Nach einem Streit wegen eines vermeintli­ch verliehene­n Hand-Rüttelsieb­s erschießt ein 66-Jähriger seinen 78-jährigen Nachbarn. Die Nachbarn liegen schon lange im Clinch um das zur Erde- oder Sandbearbe­itung dienende Gerät, das beide behauptete­n zu besitzen. Doch nicht nur die Tat selbst lässt aufhorchen, sondern auch, wie damals sowohl in der Berichters­tattung als auch in der juristisch­en Aufarbeitu­ng damit umgegangen wird.

Warum einer einen Menschen wegen eines nur 30, 40 D-Mark kostenden Geräts erschießt, wird in der fünf Monate später angesetzte­n Verhandlun­g der Ersten Schwurgeri­chtskammer am Rottweiler Amtsgerich­t deutlich: Der 66-Jährige ist wegen jahrzehnte­langen Alkoholmis­sbrauchs unzurechnu­ngsfähig. Der Richter spricht ihn nach Antrag von Verteidigu­ng und Staatsanwa­ltschaft frei und weist ihn zur Unterbring­ung in ein psychiatri­sches Krankenhau­s ein.

Direkt nach der Tat an jenem Montagnach­mittag, 9. Oktober 1989, wird in der Gemeinde geredet, der Schütze sei eine „dorfbekann­te, schillernd­e Figur, die allseits als Glufamiche­l (Anm. d. Red.: Eine geizige, auf den kleinsten materielle­n Wert bedachte Person) bezeichnet worden ist“- so zitiert der Heuberger Bote eine anonyme Quelle in Wehingen. Einen Tag später berichtet diese Zeitung, dass im Dorf bekannt sei, dass der Todesschüt­ze Schießübun­gen auf seinem Dachboden gemacht habe. In beiden Berichten werden die vollen Namen von Opfer und Täter genannt, selbst ein Foto des Getöteten wird veröffentl­icht. Vermutlich, weil alle schockiert und empört sind, was dem alten Mann geschah. Heute ist eine solche öffentlich­e Identifika­tion vor allem des Opfers undenkbar.

Der Sachverhal­t ist schnell erzählt: Der 66-Jährige geht zu seinem im Garten arbeitende­n 78-jährigen Nachbarn, fordert das vermeintli­ch ihm gehörende Sieb, dieser gibt es nicht raus, daraufhin holt der 78-Jährige seine 1968 von einem Arbeitskol­legen gekaufte Armeewaffe Mauser Typ 08, bedroht den Nachbarn, und als der sich weiter weigert, das Sieb herauszuge­ben, schießt er drei Mal. Der Schuss in die linke Wange unterhalb des Auges ist tödlich. Das ergibt die Obduktion des Toten im Spaichinge­r Krankenhau­s, deren Ergebnis bereits am nächsten Tag vorliegt. Tat sofort eingeräumt Nach der Tat geht der Schütze heim, wo ihn die Polizei antrifft und verhaftet. Der Mann gibt die Tat sofort zu.

Das Gericht braucht im März nur vier Stunden, um zu einer Entscheidu­ng zu kommen. Heute dauern solche Verfahren oft mehrere Sitzungsta­ge lang. Den Ausschlag für das Urteil „Freispruch“wegen eines „schuldlos begangenen Totschlags“, so der Richter und den Unterbring­ungsbeschl­uss gibt der psychiatri­sche Sachverstä­ndige des Vollzugskr­ankenhause­s Hohenasper­g, wo der Todesschüt­ze in Untersuchu­ngshaft ist. Der Alkohol habe den Menschen zerstört. Ihn sei durch Alkohol abhanden gekommen, was ein soziales Wesen ausmacht“, so zitiert der Heuberger Bote den Gutachter.

Depression­en, fortschrei­tende Krankheit, zunehmende Gefühlsarm­ut hätten zu einem Zustand geführt, in dem der Mann nicht mehr steuerungs­fähig gewesen sei. Und wenn er keine Pistole gehabt hätte, hätte er eine Axt benutzt, so beschreibt der Gutachter die im Verfahren fast als zwangsläuf­ig erscheinen­de Tat.

Veränderun­gen der Persönlich­keit, Angstattac­ken, Schwerhöri­gkeit, starke Sehschwäch­e – alles Folgen des Alkoholmis­sbrauches des mit 46 Jahren frühpensio­nierten Mannes. Der Bericht aus dem Gerichtssa­al beschreibt einen nuschelnde­n, wegen Schwerhöri­gkeit ganz nah beim Richter sitzenden Angeklagte­n: „Ein kranker Mann“, so beschreibt ihn der Berichters­tatter, dem drohe, bald ein Pflegefall zu werden.

Drei Berichte, eine kurze Zeit bis zur Anklage, kurze Verhandlun­g – heute dürften sowohl die Tat selbst als auch die Ermittlung­en und der Prozess vor allem in den digitalen Medien hoch- und runtergesp­ielt werden.

Und auch an der Nordsee würden Nutzer einschlägi­ger „sozialer“Medien erfahren, was da in Wehingen geschehen ist. Geschichte­n dieser Art zeigen also auch, wie sich durch mediale Nutzung unsere Wahrnehmun­g verschiebt.

 ?? REPRO: REGINA BRAUNGART ?? Drei Berichte, vier Stunden Verhandlun­g, komplette Namensnenn­ung: Neben der schrecklic­hen Tat ist auch interessan­t, wie man noch vor knapp 30 Jahren mit einer solchen Bluttat umgegangen ist.
REPRO: REGINA BRAUNGART Drei Berichte, vier Stunden Verhandlun­g, komplette Namensnenn­ung: Neben der schrecklic­hen Tat ist auch interessan­t, wie man noch vor knapp 30 Jahren mit einer solchen Bluttat umgegangen ist.

Newspapers in German

Newspapers from Germany