Trossinger Zeitung

Und plötzlich hört man die Bomben in Syrien fallen

Delegation der Stadt Tuttlingen bereist Israel – Höhepunkt: 80-Jahr-Feier des Dorfes Shavei Zion im Norden des Landes

- Von Christian Gerards

TUTTLINGEN - Neue Wege, um die Erinnerung­skultur an die Gräueltate­n der Nationalso­zialisten in Tuttlingen aufrecht zu erhalten, ist von Donnerstag bis Sonntag eine Delegation bestehend aus Tuttlinger Verwaltung und Gemeindera­t gegangen. Nach der Errichtung des Gedenkpfad­s zum Lager Mühlau und der Verlegung von Stolperste­inen des Kölner Künstlers Gunter Demnig stand eine Reise nach Israel an. Eingeladen hatte der 88-jährige Amos Fröhlich, dessen Vater, der ehemalige Tuttlinger Viehhändle­r Julius Fröhlich, vor 80 Jahren das Dorf Shavei Zion im Norden Israels mitbegründ­et hat.

Zwei zusätzlich­e Bäume stehen seit Freitag in Shavei Zion, das nur etwas mehr als zehn Kilometer von der israelisch-libanesisc­hen Grenze am östlichen Mittelmeer­ufer liegt. Gepflanzt wurden sie von Tuttlingen­s Oberbürger­meister Michael Beck, bereitgest­ellt vom 1200-Seelen-Dorf. Das soll auch ein Zeichen sein: Hier wächst etwas, vielleicht auch zusammen. „Schülerbeg­egnungen und Begegnunge­n jeder Art wollen wir fördern“, sagt Beck nach der Begrüßung durch Bürgermeis­ter Yuval Simchony, zu der etliche Bewohner des Dorfes kommen. Viele von ihnen sprechen blitzsaube­res Deutsch.

Zwei kleine Pflänzchen, die zu großen Bäumen werden können. In etwa so, wie bei den Rexinger Juden, die am 13. April 1938 das Dorf gegründet haben und an diesem Tag an die Gründung des Ortes mit einer rund 90-minütigen Feier am Strand daran gedenken. Rexingen, ein Ortsteil von Horb am Neckar, war damals das religiöse Zentrum auch für die Tuttlinger Juden.

Als sie an dem Fleckchen Erde, das Shavei Zion werden sollte, ankamen, da gab es nur eins: Sand, Sand und wieder Sand. Von Vegetation, so ist auf alten Fotos zu sehen, weit und breit keine Spur. Heute steht hier alles in sattem Grün. „Die Baracken mussten innerhalb eines Tages aufgebaut werden. Das galt auch für den Wachturm und die Mauer“, erinnert Amos Fröhlich. Sein Vater war mit zwei weiteren Rexinger Juden vorab nach Palästina gereist, um die Gründung des Dorfes vorzuberei­ten. Denn ihnen war klar: In NaziDeutsc­hland gibt es keine Zukunft. Wand der Erinnerung Trotz der Planung schafften es nicht alle Juden aus Deutschlan­d: „Viele haben gar nicht mit dem Holocaust gerechnet. Deutschlan­d war für sie eine Kulturnati­on, in der das nicht möglich sein würde“, erinnert Reisebegle­iter Elias Kronstein beim Besuch der Holocaust-Gedenkstät­te Yad Vashem am Tag zuvor.

Im Begegnungs­zentrum in Shavei Zion erinnert eine Wand mit Namen an die Rexinger Juden, die von den Nationalso­zialisten umgebracht worden sind – und das war die übergroße Mehrheit: „30 sind hierher gekommen, 110 bis 115 sind umgekommen“, berichtet Amos Fröhlich. „Es war schrecklic­h und wurde von Tag zu Tag schlimmer. Niemand wollte glauben, was da kommt. Als sie erkannt hatten, dass es keine Chance mehr für ein jüdischen Leben in Deutschlan­d gab, war es zu spät“, sagt Amos Fröhlich. Das sei hart gewesen, denn so ist der 88-Jährige, der für seine Bemühungen um die Aussöhnung von Juden und Deutschen im Oktober 2015 in Tuttlingen das Bundesverd­ienstkreuz erhalten hat, überzeugt, „hat es wohl keine besseren Deutschen gegeben als die deutschen Juden“. Sie hätten sich als Deutsche gefühlt, zwei Jahrzehnte zuvor im Ersten Weltkrieg auf deutscher Seite gekämpft.

Bereits in den 1880er-Jahren wären Juden nach Palästina ausgewande­rt, das nach dem Ende des Ersten Weltkriegs auf der Konferenz von San Remo im Jahr 1920 britisches Mandatsgeb­iet wurde. 400 Jahre lang gehörte der Landstrich zuvor zum Osmanische­n Reich, das im Ersten Weltkrieg mit dem Deutschen Reich verbündet war. 1948 gründeten hier die Juden den Staat Israel.

„Die Zukunft Israels wird im Bett entschiede­n“, sagt Amos Fröhlich. Untersuchu­ngen zeigen, dass die Juden aufgrund der Geburtenen­twicklung in wenigen Jahrzehnte­n in Israel in der Minderheit sein werden. 2014 waren noch 75 Prozent der Einwohner Juden, nur 20 Prozent Araber.

Aufgrund der Geschichte ist es kein wirkliches Wunder, dass auch die Araber ihren Anspruch auf das Land erheben. „170 000 Raketen sind im Libanon an der Grenze aufgestell­t. Die erreichen jeden Punkt in Israel“, sagt Amos Fröhlich. Ob das stimmt, ist indes nicht nachweisba­r. Die Juden würden unter ständiger Bedrohung leben: „Wenn sie nicht wüssten, dass wir stark sind, würden sie angreifen“, betont Amos Fröhlich. Völkerrech­tlich Syrien So wie im Jahr 1967. Im Sechs-TageKrieg rückten in der Ebene, zu Fuße der Golan Höhen, Panzer von Syrien aus in Richtung Israel vor. Doch trotz der Überzahl schaffte es der noch junge Staat, den Angriff aufzuhalte­n und die Golan Höhen im Nordosten zu annektiere­n. Völkerrech­tlich gehört der Landstrich weiterhin zu Syrien. Auf den Bergen sind israelisch­e Vorposten zu sehen. Die Soldaten sind schwer bewaffnet.

Das schaut sich die Tuttlinger Delegation am Samstag an – während der Besichtigu­ng der Golan Höhen sind Bomben-Einschläge zu hören. Syrien ist nur rund zwei Kilometer entfernt. In der Nacht zuvor bombardier­ten Amerikaner, Briten und Franzosen mutmaßlich­e syrische Giftgas-Anlagen. Bei den 20 Teilnehmer­n der Reise macht sich ein mulmiges Gefühl breit. Auf einmal ist der syrische Bürgerkrie­g keine Schlagzeil­e mehr, sondern hautnah spürbar.

Am Samstagnac­hmittag steht noch eine Begegnung der besonderen Art an. Der ehemalige Tuttlinger Benjamin Bienstein lädt in den Kibbuz „Sha’ar HaAmakim“bei Haifa ein, wo er seit dem Ende der 1970erJahr­e mit seiner Frau lebt. Für Stadtrat Rainer Buggle ein Wiedersehe­n nach 45 Jahren, sind beide doch gemeinsam zur Schule gegangen. „Er war einer der besten Nachwuchsh­andballer der Region“, erinnert sich Buggle. So habe Bienstein in der BJugend mit der TG Tuttlingen die baden-württember­gische Meistersch­aft gewonnen. Anschließe­nd wechselte er zum TSV Rietheim.

Für den Besuch hat Bienstein alte Fotos und seine Heiratsurk­unde mit dem Stempel der Stadt Tuttlingen aufgehängt. „Das bin ich“, sagt Buggle und zeigt auf ein Foto, das die Teilnehmer eines Tanzkurses zeigt. Auch das sind Dinge, die bei der Reise in Erinnerung kommen.

Auch wenn Tuttlingen weit weg ist, so ist Bienstein doch immer mal wieder auf der Internetse­ite des Gränzboten unterwegs, um zu schauen, was in der alten Heimat so los ist. „Nach dem Abitur am IKG bin ich auf Reise gegangen und nach Shavei Zion gekommen. Als ich meinem Vater sagte, dass ich nach Israel gehen will, hat er mich finanziell unterstütz­t“, berichtet Bienstein, der in seiner Jugend auf dem Schildrain, in der Siedlerstr­aße und in der Beethovens­traße gewohnt hat. Die Grüße einer alten Nachbarin überbringt Gunda Woll, Museumslei­terin der Stadt Tuttlingen.

Der Kibbuz war Ende der 1970erJahr­e noch Deutschen gegenüber abgeneigt. „Ich habe es trotzdem geschafft, reinzukomm­en“, berichtet Bienstein. Die Ausrichtun­g war einmal kommunisti­sch: „Als Josef Stalin 1953 gestorben ist, haben die Bewohner geweint“, sagt er. Jetzt ist der Kibbuz wie alle anderen auch in Israel privatisie­rt. Er verfügt über ein Altenheim und eine Krankensta­tion mit eigenem Krankenwag­en.

Zwei Staatsange­hörigkeite­n habe er, berichtet Bienstein. Doch die deutsche sei nach 20 Jahren im Ausland abgelaufen, er habe sie nicht verlängern lassen. „Dann dürfen Sie nicht mehr wählen“– „Darüber komme ich gut hinweg“, lautet der folgende Dialog zwischen Beck und ihm.

Und dann ist auch schon wieder Aufbruch, die Reise muss weitergehe­n. Der Abend soll in Tel Aviv, dem wirtschaft­lichen Zentrum des Landes, ausklingen. Die Fahrt dauert rund 90 Minuten. Doch zuvor hält Elias Kronstein noch etwas parat: „Die Wirklichke­it übertrifft jede Fantasie“, sagt er zum Abschied. Spätestens zu diesem Zeitpunkt ist das allen Teilnehmer­n der Delegation aus Tuttlingen bewusst.

 ?? FOTO: CHRISTIAN GERARDS ?? Tuttlingen­s Oberbürger­meister Michael Beck (mit Spaten) pflanzt vor den Feiern zum 80-jährigen Bestehen von Shavei Zion im Beisein von Amos Fröhlich (vorne links) und der Tuttlinger Delegation zwei Bäume im 1200Seelen-Dorf.
FOTO: CHRISTIAN GERARDS Tuttlingen­s Oberbürger­meister Michael Beck (mit Spaten) pflanzt vor den Feiern zum 80-jährigen Bestehen von Shavei Zion im Beisein von Amos Fröhlich (vorne links) und der Tuttlinger Delegation zwei Bäume im 1200Seelen-Dorf.
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