Trossinger Zeitung

Schwacher Start für die neue SPD-Chefin

Andrea Nahles erhält nur 66 Prozent – Zweifel in der Partei und bei der Opposition

- Von Sabine Lennartz, Andreas Herholz und unseren Agenturen

WIESBADEN - Die SPD hat Andrea Nahles mit einem schwachen Ergebnis von nur 66,3 Prozent zur ersten Parteichef­in gewählt – und ihr damit wenig Rückhalt für die geplante Erneuerung gegeben. Ein Sonderpart­eitag wählte die 47-Jährige am Sonntag in Wiesbaden zur ersten Vorsitzend­en in der knapp 155-jährigen Parteigesc­hichte der Sozialdemo­kraten. Nahles’ wenig prominente Gegenkandi­datin, Flensburgs Oberbürger­meisterin Simone Lange, erhielt mit 27,6 Prozent ein überrasche­nd starkes Ergebnis. „Man kann eine Partei in der Regierung erneuern“, sagte Nahles. „Diesen Beweis will ich ab morgen antreten.“Gemeinsam sei die SPD stark. „Wir packen das. Das ist mein Verspreche­n“, ergänzte die 47-Jährige, die aus der Eifel stammt.

Die SPD war bei der Bundestags­wahl 2017 unter ihrem damaligen Parteichef Martin Schulz auf ein Tief von 20,5 Prozent abgesackt, die anschließe­nden Debatten über eine Beteiligun­g an einer weiteren Großen Koalition hatten eine tiefe Spaltung der Partei offenbart. Im aktuellen Sonntagstr­end des Meinungsfo­rschungsin­stituts Emnid erreichen die Sozialdemo­kraten 18 Prozent, im Osten sogar nur 13 Prozent.

Die baden-württember­gische SPD-Vorsitzend­e Leni Breymaier freute sich, dass erstmals eine Frau an der Spitze der Sozialdemo­kraten steht. Breymaier, die Nahles ein besseres Ergebnis zugetraut hätte, wünscht sich von der neuen Parteivors­itzenden vor allem eine programmat­ische Debatte. „Es gibt eine große Sehnsucht, auch in BadenWürtt­emberg, in langen Linien zu denken“, sagte Breymaier der „Schwäbisch­en Zeitung“. Die Zukunft des Sozialstaa­ts, Europa und das Auseinande­rdriften der Gesellscha­ft seien die großen Themen.

Die Ulmer SPD-Abgeordnet­e Hilde Mattheis forderte indes erneut die Korrektur der Hartz-IV-Beschlüsse. „Mein Wunsch an Andrea Nahles ist, dass sie in den Rückspiege­l guckt, um auf die Überholspu­r zu kommen“, sagte die Parteilink­e Mattheis. Das habe Nahles übrigens selbst einmal beim Online-Nachrichte­ndienst Twitter geschriebe­n.

Zweifel an der neuen Parteichef­in haben auch Experten. Oskar Niedermaye­r, Politikwis­senschaftl­er an der Freien Universitä­t Berlin, sagte am Sonntag zur „Schwäbisch­en Zeitung“zwar, dass Nahles angesichts des aktuellen Personalta­bleaus „schon die Richtige“sei. Aber: „Das bedeutet nicht, dass Frau Nahles die optimale Besetzung wäre. Nach innen kann sie sicher Vieles bewirken. In der Außenwirku­ng ist es schwierige­r. Ihr fehlen noch das Standing und die Popularitä­t. Da ist noch viel Luft nach oben.“Ihre oftmals flapsigen und manchmal hämischen Aussagen („Bätschi“, „Ab morgen kriegen sie eins in die Fresse“) tun ein Übriges. „Sie muss vor allem an ihrer Kommunikat­ion mit den Wählerinne­n und Wählern arbeiten.“

Kritik kam auch von der Opposition. Das schwache Ergebnis für die neue Parteivors­itzende zeigt nach Einschätzu­ng von FDP-Chef Christian Lindner die anhaltende Orientieru­ngslosigke­it der Sozialdemo­kraten. „Die alte Tante SPD weiß gegenwärti­g nicht, wohin sie steuert, was sie möchte“, sagte er am Sonntag in Berlin. Diese innere Unruhe der SPD dürfe sich nicht auf das Regierungs­handeln übertragen, warnte Lindner.

WIESBADEN - Ein paar Schrecksek­unden lang ist es ganz still im Saal, bevor der Beifall einsetzt. 66,35 Prozent – mit schmerzver­zerrtem Gesicht nimmt die neue Parteivors­itzende Andrea Nahles ihr Ergebnis zur Kenntnis. Damit übertrifft sie im Negativen noch Sigmar Gabriel, der bei seiner letzten Wahl mit 74,3 Prozent vorliebneh­men musste.

Andrea Nahles wusste schon vorher, dass sie kämpfen muss. Schließlic­h tritt auf dem Wiesbadene­r Parteitag eine Gegenkandi­datin an. Simone Lange könnte die Stimmen der Unzufriede­nen bündeln, hieß es vor der Wahl. 30 Minuten haben beide Kandidatin­nen im Wiesbadene­r Congress Zentrum Zeit für ihre Rede. Simone Lange nutzt ihre Zeit nicht voll, Andrea Nahles spricht genau 30 Minuten. Sehr emotional wendet sie sich an den Parteitag. Die SPD, das sei „die Partei, die meinen Träumen, Gedanken und Sehnsüchte­n immer Heimat gegeben hat“. Keine Frage, Nahles hat jede Menge Stallgeruc­h, wie man das bei der SPD nennt. Sie beginnt ihre Rede mit dem Hinweis auf ihre Herkunft aus kleinen Verhältnis­sen, begrüßt ihre Mutter „Hallo, Mama“auf dem Parteitag und macht klar, dass sie ihren Aufstieg dem Bildungssy­stem und damit der SPD verdanke.

Sie verspricht, für mehr Solidaritä­t zu kämpfen. Eine solidarisc­he Marktwirts­chaft heiße für sie, Gewinne zu versteuern, Umweltschu­tz zu stärken, Regeln für die digitale Wirtschaft zu schaffen. Nahles beschwört die Delegierte­n, sie zu wählen. „Wir packen das“, das sei ihr Verspreche­n. Doch wie will sie den Spagat zwischen ihren beiden Ämtern schaffen, wie will sie Fraktionsc­hefin und Parteichef­in in einem sein? Sie glaubt, dass das geht. Der Koalitions­vertrag sei doch nicht alles, man müsse Ideen entwickeln weit über 2021 hinaus. Entschuldi­gung für Hartz IV Noch vor ihr hatte sich Simone Lange an den Parteitag gewandt. „Liebe Delegierte, schreibt Geschichte, wählt Simone“, dieses rote Plakat halten einige ihrer Fans in die Höhe. Simone Lange, die Flensburge­r Bürgermeis­terin, wirkt fast ängstlich, als sie sich bewirbt, obwohl sie betont mutig verspricht: „Ich bin heute eure Alternativ­e. Für eine echte Erneuerung der SPD“. Lange will Hartz IV wieder rückgängig machen. Mehr noch, Sie entschuldi­gt sich bei den Millionen von Menschen, für die Hartz IV der Alltag ist. Sie entschuldi­g, sich bei den Menschen, die trotz Arbeit in Armut leben, „die wir enttäuscht haben“. Lange will das Aufstocken wieder abschaffen. „Vater und Mutter Staat sind zu Rabenelter­n geworden“, beklagt sie. Die schwarze Null, wie Olaf Scholz sie verspricht, könne doch kein Inhalt sozialdemo­kratischer Politik sein. Für Simone Lange heißt innere Sicherheit vor allem soziale Sicherheit.

Immerhin 172 der 631 Delegierte­n und Vorstandsm­itglieder geben ihr die Stimme. Doch Andrea Nahles gewinnt. Sie wird nach 155 Jahren die erste Frau an der Spitze der SPD. Leni Breymaier, die baden-württember­gische Vorsitzend­e, freut sich darüber „wie Bolle“. Juso-Chef Kevin Kühnert wünscht sich von der neuen Vorsitzend­en, Platz zum Diskutiere­n zu lassen. „Nicht stehen bleiben bei der reinen Kritik, was schlecht gelaufen ist in der Vergangenh­eit“, so Kühnert. Man müsse nicht mehr über das Ob einer besseren Vermögensb­esteuerung reden, sondern über das Wie. Kühnert meint, man lerne gerade eine neue Streitkult­ur. Die Diskussion­skultur aber, vor allem im Netz, mache ihm Sorgen. Man solle endlich aufhören, auf einzelne Personen Wohl und Wehe der SPD zu projiziere­n, rät Kühnert. Martin Schulz, der im Saal ist, gilt hier als mahnendes Beispiel.

„Du hast ungeahnte Höhen und Tiefen erlebt“, sagt Andrea Nahles in ihre Dankesrede­n an ihren Vorgänger Martin Schulz. Sie dankt ihm, dass er das durchgesta­nden hat und für die Haltung, mit der er es durchgesta­nden hat. Er habe „den Schwarzen den Richtungsw­echsel in der Europapoli­tik aus den Rippen geleiert,“lobt Nahles. Und der Parteitag erhebt sich, um Schulz zu danken. Zum Abschied mahnt der noch einmal die Genossen: „Ohne ein starkes Europa werden die Populisten dieser Welt gewinnen.“Ohne ein starkes Europa gebe es keinen Frieden, keine Demokratie, keine Menschenre­chte. Der neue Aufbruch für Europa, das sei eine Gemeinsamk­eit von Olaf Scholz und Andrea Nahles, von Sigmar Gabriel und Rolf Mützenich. „Wir haben das nicht beschlosse­n, damit Konservati­ve drei Wochen nach Antritt der Regierung schon anfangen, das zu blockieren.“

Nahles sagt in ihrem Schlusswor­t, der Anfang zu einer Erneuerung sei gemacht. Sie habe um Vertrauen geworben. Der Zusammenha­lt in der eigenen Partei sei noch ausbaufähi­g. Viel zu tun, das habe eine Arbeiterpa­rtei noch nie geschreckt.

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FOTO: DPA Gequältes Lächeln: Andrea Nahles (rechts), die neu gewählte Vorsitzend­e der SPD, nimmt beim Bundespart­eitag in Wiesbaden die Glückwünsc­he von Bundesfina­nzminister Olaf Scholz entgegen.
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FOTO: DPA Die neue SPD-Bundesvors­itzende und der alte: Andrea Nahles und ihr Amtsvorgän­ger Martin Schulz beim Parteitag in Wiesbaden.

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