Artenschutz Am Bodensee lernt der Waldrapp das Leben als Zugvogel
Der Waldrapp war in Mitteleuropa ausgerottet – Nahe Überlingen lernen in diesem Sommer 32 Jungtiere alles, was sie für ein Leben in freier Wildbahn wissen müssen
ÜBERLINGEN - Abstehende Schopffedern, kahler Schädel und ein langer, gebogener Schnabel: Der Waldrapp ist fraglos eine markante Erscheinung. Eine, die am Bodensee bald wieder häufiger zu beobachten sein wird: Den zweiten Sommer in Folge werden Jungvögel der seltenen Ibis-Art in eine Art Trainingscamp nahe Überlingen verfrachtet, um dort die Grundlagen des Zugvogeldaseins zu lernen – von menschlichen Lehrerinnen. Schon den vergangenen Sommer hat Anne- Gabriela Schmalstieg größtenteils in einer Voliere verbracht, gemeinsam mit ihrer Kollegin Corinna Esterer und mit 31 jungen Waldrappen. Die Vögel – sie gelten als neugierig und gesellig – gewöhnten sich so sehr an die beiden jungen Frauen, dass sie den Ziehmüttern auch folgten, als diese sich im Spätsommer in zwei Ultraleichtflieger setzten und über die Alpen in die Toskana flogen, zur Lagune von Ortobello. „Mittlerweile haben sich die Waldrappe dort gut eingelebt, wir haben sie besendert und freigelassen“, berichtet Anne-Gabriela Schmalstieg jetzt. Nur ein Tier sei ums Leben gekommen, weil es ein Metallteil gefressen hatte – die anderen werden ab 2019 in Überlingen zurückerwartet. Ohne Orientierung Nun wollen Schmalstieg und Esterer, die für das Naturschutzprojekt „Waldrappteam“arbeiten, mit 32 weiteren Jungvögeln nach Überlingen kommen. Dazu waren die beiden Naturschützerinnen am Montag im Tierpark Rosegg unterwegs, um die ersten Küken auszuwählen. Der Zoo in Kärnten ist einer der wenigen Orte, an dem die in Europa fast ausgerotteten Tiere heute noch leben – allerdings ohne Wechsel zwischen Sommer- und Winterquartier. Das Zugvogeldasein hat der glatzköpfige Vogel zwar in den Genen – aber anders als beispielsweise der Storch nicht die notwendige Orientierung, ein geeignetes Winter- oder Sommerquartier eigenständig zu finden. Das lernen die Jungvögel normalerweise von ihren Eltern. Oder, wenn die als Lehrer ausfallen, weil sie selbst keine Zugvögel mehr sind, eben von Anne-Gabriela Schmalstieg und Corinna Esterer. Jetzt werden die Küken, die zwischen 100 und 450 Gramm wiegen, im Auto in den Wiener Tiergarten Schönbrunn gebracht, voraussichtlich Ende Mai dann nach Baden-Württemberg, auf dieselbe Wiese im Bodensee-Hinterland beim Überlinger Teilort Hödingen wie im vergangenen Sommer.
Dort dürfen ab Mitte Juni auch wieder Besucher bei der Voliere vorbeischauen und miterleben, wie die Waldrapp-Ziehmütter ihre Schützlinge nach und nach an sich und an die Ultraleichtflieger gewöhnen, um ihnen das nötige Rüstzeug für ein Leben als Zugvogel mitzugeben: Erst wird das Fluggerät in der Nähe der Voliere aufgestellt, dann hin- und hergeschoben, später dürfen die Tiere ein Stückchen mitfahren. So sollen sie die Scheu vor dem motorisierten Fluggerät verlieren, dem sie schließlich ins Winterquartier folgen. Schon beim ersten Rückflug nach Norden werden sie nicht mehr auf menschliche Begleitung angewiesen sein. Das belegt die Arbeit des „Waldrappteams“mit weiteren Kolonien in Burghausen am Inn sowie im österreichischen Kuchl.
Im aktuellen, unter anderem von der EU geförderten Projekt ist es das Ziel, bis 2019 insgesamt 120 Waldrappe auszuwildern. Der Antrag für ein Folgeprojekt läuft gerade, sagt der Gründer und Chef des „Waldrappteams“, der österreichische Biologe Johannes Fritz. Dann sollen Waldrappe auch an Standorten in der Schweiz und südlich der Alpen angesiedelt werden. „Insgesamt 350 bis 400 Individuen, die braucht man auch für eine überlebensfähige Population“, so Fritz. Mit dann fünf Brutgebieten im Alpenraum und einem gemeinsamen Winterquartier in der Toskana wäre der Waldrapp in Europa zum ersten Mal seit Jahrhunderten wieder als Zugvogel heimisch – seit der Frühen Neuzeit galt er in Mitteleuropa in freier Wildbahn als ausgestorben.
Am Bodensee freut man sich schon auf die Ankunft der seltenen Vögel. „Mit großem Interesse“hätten die Überlinger im vergangenen Jahr die Aufzucht und die Flugübungen der Tiere begleitet, sagt Oberbürgermeister Jan Zeitler. „Die diesjährigen Neuankömmlinge werden schon mit Spannung erwartet.“
Die Gegend um Überlingen ist für den Waldrapp geradezu ideal, erläutert Biologe Fritz. „In Überlingen finden wir weitgehend noch die Brutstrukturen, wie sie im Mittelalter waren, das ist anderswo so nicht mehr gegeben“, sagt Fritz, und meint damit zum einen die relativ kleinteilige Landwirtschaft mit vielen Bio-Feldern, auf denen die Waldrappe Nahrung finden. Und zum anderen die Felsen bei Sipplingen. Dort, direkt am Bodensee, soll das endgültige Quartier der Waldrappe werden. 2019 werden die ersten Vögel dort erwartet, um die nächste Waldrapp-Generation auszubrüten. Eine, die das Zugvogeldasein wieder von ihren Eltern lernt, ohne jede menschliche Hilfe.