Flucht vor der eigenen Vergangenheit
„A Beautiful Day“– Exzellenter Rachethriller mit Joaquin Phoenix
J oe ist Söldner und Spezialist für Kindesentführungen. Der alternde Mann hat im Krieg erlebt, wie Kinder einander wegen eines Schokoriegels töten. Als FBI-Agent hat er ebenfalls mehr als genug Kinderleichen für ein Menschenleben gesehen. In seinem dritten Berufsleben nun tötet er Männer und rettet Kinder. Immer wieder kämpft er so gegen die Urszene seines Lebens an: den Missbrauch durch den eigenen Vater. Diesen verstörten Veteran verkörpert Charakterdarsteller Joaquin Phoenix in dem sehenswerten Rachethriller „A Beautiful Day“.
Ein New Yorker Senator engagiert Joe, weil seine minderjährige Tochter Nina von einem Pädophilen-Ring gefangen gehalten wird. Joe schlägt routiniert zu, hinterlässt keine Zeugen. Doch nachdem er die apathische Nina huckepack aus dem Schlachthaus getragen hat, werden beide von Killerkommandos in Empfang genommen anstatt von Ninas Vater.
Farbsatte, sehr unmittelbar wirkende New-York-Aufnahmen, der Selbstjustiz-Feldzug eines traumatisierten Veteranen – viele Cineasten fühlen sich da an Martin Scorseses Kinoklassiker „Taxi Driver“aus den 1970er-Jahren mit Robert De Niro erinnert. Dessen Eröffnungsfahrt durch die Stadt wird in Ramsays Film auch zitiert. Naheliegend, ihn als „Taxi Driver des 21. Jahrhunderts“zu vermarkten. Dieses Etikett ist allerdings irreführend. „A Beautiful Day“ist nämlich etwas sehr Eigenes. Ein Film, der sich Zeit nimmt und auf Bilder mit Sogwirkung setzt, um sinnlich zu überwältigen. Die Sets sind bevölkert von absichtsvollen Details und Figuren, die ein echtes Eigenleben haben, auch wenn sie nicht lange zu leben haben. Joe stolpert durch Großstadtverkehr, durch mitgehörte Gespräche aus anderen Leben und läuft unversehens einer Gruppe ausgelassener Asiatinnen in die Arme. Sie bitten Joe, ein Foto von ihnen zu machen. Schon für diese scheinbar zufälligen, für sich stehenden Seitengeschichten lohnt sich dieser Film. Und für den vielseitigen Soundtrack des Radiohead-Gitarristen Jonny Greenwood.
Bei dem Thema Kindesmissbrauch ist „A Beautiful Day“ungewöhnlich diskret. Hier wird nicht alles exzessiv ausbuchstabiert; das ist erfreulich unzeitgemäß.
Phoenix bekam für seine Rolle 2017 auf dem Filmfestival in Cannes den Preis als bester Schauspieler. Die schottische Independent-Filmemacherin Lynne Ramsay hatte beim Schreiben des Rachethrillers wohl schon Phoenix vor Augen: Sie erhielt in Cannes den Drehbuch-Preis. (dpa) A Beautiful Day. Regie: Lynne Ramsay. Mit Joaquin Phoenix, Ekaterina Samsonov. Großbritannien 2017. 90 Minuten. FSK ab 16.