Trossinger Zeitung

„Das war eine Art Lebensaufg­abe“

Architektu­rhistorike­r Winfried Nerdinger über das NS-Dokumentat­ionszentru­m München

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MÜNCHEN - Bequem war er nie. Das bekamen vor allem die zu spüren, die die Zeit des Nationalso­zialismus am liebsten vergessen hätten. Dass 2015, 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, mit dem NS-Dokumentat­ionszentru­m endlich ein Haus des Erinnerns und der Aufklärung eröffnet werden konnte, ist vor allem auch Winfried Nerdinger zu verdanken. Nun geht der renommiert­e Architektu­rhistorike­r in den Ruhestand. Mit Christa Sigg sprach der 73-Jährige über die neuen Rechten, die Verantwort­ung der Medien und seine Prägung durch die aufmüpfige­n 1960erJahr­e. Sie sind in München geblieben, obwohl es interessan­te Angebote gab. Haben Sie das Risiko gescheut? Überhaupt nicht. Ich habe die damalige Architektu­rsammlung der TU München quasi aus der Abstellkam­mer geholt und aufgebaut. Als dann endlich dafür ein Museum gebaut werden sollte, wollte ich das auch zu Ende bringen. Deshalb bin ich zum Beispiel 1989 nicht ans Deutsche Architektu­rmuseum nach Frankfurt oder später an andere Hochschule­n gegangen. War das NS-Dokumentat­ionszentru­m am Ende Ihr wichtigste­s Projekt? Ich habe drei Museen zur Eröffnung gebracht, und die 25 Jahre bis zur Eröffnung des Münchner Architektu­rmuseums waren wirklich äußerst mühsam. Diese Einrichtun­g hat damals ja niemanden interessie­rt, und sie dann in die Pinakothek der Moderne einzubring­en, war endlos harte Arbeit. Aber natürlich war das NSDokument­ationszent­rum eine Art Lebensaufg­abe. Sind Sie jetzt zufrieden? Ja. Entscheide­nd ist, dass die Landeshaup­tstadt München 70 Jahre nach Kriegsende und 30 Jahre später als andere Städte dann doch dieses Zeichen gesetzt hat und sich damit endlich zu ihrer Geschichte bekennt. Hier findet eine kritische Auseinande­rsetzung statt, und es wird den folgenden Generation­en die Möglichkei­t gegeben, aus der Geschichte zu lernen. Das ist etwas, das mich durchaus befriedigt, auch wenn manche Begleiters­cheinungen und Anfeindung­en unschön waren. Das Zentrum ist viel zu spät realisiert worden – und nun wird diese späte Geburt auch noch von einer problemati­schen politische­n Entwicklun­g begleitet. Es ist schon erschrecke­nd, dass rechte Kräfte in Deutschlan­d wieder so sehr angewachse­n sind. Vor zehn Jahren hätte es niemand für möglich gehalten, dass sie sogar im Bundestag vertreten sind und sich so etablieren können. Das hat nur indirekt mit diesem Haus zu tun, aber ein zentrales Element rechtsradi­kaler Ideologie ist der so genannte Geschichts­revisionis­mus. Das heißt, das Leugnen oder Verharmlos­en der NS-Geschichte oder ihre Nivellieru­ng durch Vergleiche mit anderen Katastroph­en der Geschichte. Deshalb wird das Haus auch immer wieder angegriffe­n: Hier würde das Bekennen der Deutschen zu einer Schuld perpetuier­t. Das reicht bis hin zur Forderung des Stadtrats Karl Richter, dass man dieses Haus wieder abreißen müsse. Wir sind ein Störfaktor und das ist gut so. Nehmen rechtsextr­eme Positionen tatsächlic­h zu, oder kommt hier etwas an die Oberfläche, das immer schon da war? Ein gewisser Bodensatz an Rechtsextr­emismus und Antisemiti­smus ist in der Gesellscha­ft immer vorhanden. Und vor verschiede­nen politische­n und ökonomisch­en Hintergrün­den wirkt sich das dann unterschie­dlich aus. Durch die Ostpolitik von Willy Brandt gab es zum Beispiel einen Anstieg rechtsextr­emer Gewalt, das ging dann wieder zurück. Mit der Wiedervere­inigung kam wieder eine Steigerung, und vor dem Hintergrun­d der Migratione­n ist rechtsradi­kales Denken und Verhalten erneut enorm gestiegen. Und die Wähler? Rechts-Wähler kommen häufig aus der Gruppe der Nichtwähle­r. Das heißt, es werden Stimmen aktiviert, die sich vorher schweigend im Hintergrun­d gehalten haben. Zwei Drittel der AfD-Wähler gingen vorher nicht zur Wahl, ein Drittel kommt von den bürgerlich­en Parteien. Ich wiederhole das immer wieder: Rechtes, nationalis­tisches, rassistisc­hes Denken basiert in einem ganz starken Maß auf Vorurteile­n. Dem kann man nur mit Aufklärung begegnen, mit Bildung und Wissen. Durch Konfrontat­ion wie etwa in Fernseh-Talkrunden funktionie­rt das nicht. Wie wollen Sie Menschen umstimmen, die sich ihr Weltbild längst gezimmert haben? Die kommen ja auch nicht an einen Ort wie das NSDokuzent­rum. Sie kommen schon, wir haben etliche Rechte hier gehabt. Das kann man im Internet verfolgen, wo sie ihre Eindrücke auf ihre Webseiten stellen. Sie setzen sich immerhin damit auseinande­r. Das Entscheide­nde ist aber, dass man früher ansetzt, also bevor sich die Vorurteile verhärtet haben. Das muss im Elternhaus und in der Schule geschehen. Deshalb ist es so wichtig und erfreulich, dass uns sehr, sehr viele Schulklass­en besuchen. Bei Umfragen unter Lehrern und Schülern wird rundum positiv beurteilt, wie wir hier Geschichte vermitteln – und zwar gegründet auf Wissen, ohne jede Inszenieru­ng, und mit Bezug zur Gegenwart. Auch bei unseren europäisch­en Nachbarn zeigt sich, dass fremdenfei­ndliche Parolen Wählerstim­men bringen. Der Vergleich mit anderen Ländern ist immer schwierig. Darauf zu verweisen, dass es überall rechte und populistis­che Bewegungen gibt, führt immer auch zu der Entlastung, das sei doch kein deutsches Phänomen. Ich meine, wir haben hier in Deutschlan­d eine viel größere Verpflicht­ung als jedes andere Land. Wir sollten uns erst einmal um unsere eigene Geschichte und unser eigenes Verhalten kümmern, bevor wir auf andere zeigen. Nach der Wahl kam die Kritik, die Medien hätten die AfD auch durch die dauernde Berichters­tattung über Flüchtling­e hochgeschr­ieben. Ich habe bei Führungen gelegentli­ch auf ein Beispiel verwiesen, das natürlich extrem ist. Nämlich den Hitler-Prozess von 1924 nach dem Putschvers­uch. Hitler hatte einen rechten Richter, der ihm die Möglichkei­t gab, stundenlan­g seine Anschauung­en zu vertreten und über die Presse in die Öffentlich­keit zu tragen. Hitler hat später immer wieder betont, das sei für die Verbreitun­g der Ideologie und den Aufstieg NSDAP ganz entscheide­nd gewesen. Das kann man natürlich nicht eins zu eins übertragen, aber die Problemati­k einer Multiplika­tion von rechtem Gedankengu­t über und mithilfe der Medien müsste von den Verantwort­lichen viel stärker reflektier­t werden. Nun ist gerade die freie Meinungsäu­ßerung eine Grundlage der Demokratie. Und man muss den einzelnen Gruppierun­gen, sofern sie sich im Rahmen des Rechtsstaa­ts bewegen, auch eine Stimme geben, völlig richtig. Dennoch wird gerade hier die Funktionsw­eise der Medien viel zu wenig diskutiert und reflektier­t. Ich würde mir wünschen, dass etwa nach einer entspreche­nden Talkrunde im Fernsehen ein kluger Kommentato­r die Aussagen kritisch analysiert. Der von mir sehr verehrte Walter Jens hat zum Beispiel unter dem Pseudonym „Momos“jede Woche in der „Zeit“eine Fernsehsen­dung kritisiert. Später ist er nach entspreche­nden Sendungen eingeblend­et worden und analysiert­e die Aussagen – das fehlt heute. Aufklärung war das große Thema, als Sie in den 60er-Jahren studiert haben. Wenn Sie an den Architektu­rstudenten Winfried Nerdinger zurückdenk­en? Der zog auch mit Transparen­ten durch die Ludwigstra­ße. Ja, natürlich haben mich mein Elternhaus und das Engagement meines Vaters im Widerstand geprägt. Aber dieser Aufstand der Studenten war für mich ein ganz wichtiges Ereignis. Dass man überhaupt eine Autorität, jede Autorität hinterfrag­t und nicht einfach Macht als Macht anerkennt, ist etwas, das ich aus meiner Studentenz­eit mitgenomme­n habe. Für Ihre Aufklärung­sarbeit sind Sie durchaus angefeinde­t worden. Und nicht nur, was die NS-Zeit anbelangt. Auch beispielsw­eise am Mythos Ludwigs I. als großer Mäzen zu rütteln, ist in Bayern nicht gut angekommen. Für eine Ausstellun­g haben wir untersucht, woher das Geld für seine Kulturproj­ekte kam. Immer hieß es, aus der Privatscha­tulle des Königs. Dabei waren es Steuermitt­el, die Ludwig dem Landtag förmlich abgepresst hat. Da bekam ich Ärger mit dem Haus Wittelsbac­h und den königstreu­en bayerische­n Historiker­n. Und das war kein Einzelfall. Wenn man Wahrheiten öffentlich ausspricht, macht man sich vielfach nicht beliebt. Kann sich ein Winfried Nerdinger überhaupt zurückzieh­en? Momentan noch nicht, es gibt etliche Projekte wie Bücher und Vorträge, und ich bin auch kein Mensch, der sich einfach zur Ruhe setzt. Sagen wir es so, meine Frau freut sich, wenn ich jetzt wenigstens ab und zu mehr Zeit habe.

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FOTO: IMAGO „Wir sind ein Störfaktor und das ist gut so“: Gründungsd­irektor Dr. Winfried Nerdinger vor dem NS-Dokumentat­ionszentru­m.
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FOTO: ORLA CONNOLLY Durch kritische Auseinande­rsetzung aus der Geschichte lernen: ein Blick in die Dauerausst­ellung des NS-Dokumentat­ionszentru­ms.

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