Trossinger Zeitung

Nächstenli­ebe rettet Brüder vor dem Tod

Familie in Sulzberg versteckt kurz vor Ende des Krieges die jungen Juden und versorgt sie

- Von Regina Braungart

SPAICHINGE­N/SULZBERG - Sie hatten nichts mehr zu verlieren gehabt. Deshalb standen die beiden polnisch-jüdischen Brüder Michal und Henryk Guterman an jenem 21. April 1945 unter höchster Lebensgefa­hr am hellichten Tag in gestreifte­r Häftlingsk­leidung am Zaun der Familie Beyrer in Sulzberg im Allgäu und baten um etwas zu essen. Sie hatten Glück: Beyrers halfen sofort.

Heute noch kann sich Josef Beyrer, Jahrgang 1935, daran erinnern, wie die beiden Männer, verwahrlos­t und aufs Skelett abgemagert, für etwa eine gute Woche Unterschlu­pf fanden, frische Kleider und vor allem Nahrung bekamen. Unter höchster Gefahr auch für die Familie, denn gerade in diesen letzten Tagen vor der Kapitulati­on liefen denunziere­nde Fanatiker oder durchziehe­nde SSGruppen noch einmal zur Hochform auf. Die beiden Männer kamen vom KZ Spaichinge­n, waren auf den Todesmarsc­h in Richtung Obersalzbe­rg geschickt wie so viele, damit es möglichst wenige Überlebend­e und damit Zeugen der Nazigräuel geben sollte.

Wenn sich in der Erinnerung kein Fehler eingeschli­chen hat, dann hatten sie vier Tage Fußmarsch mit je 36 Kilometern hinter sich. Und das ohne ausreichen­de Ernährung, in Holzpantof­feln, mit nur einem gestreifte­n Häftlingsa­nzug angezogen.

Sie waren mit großer Wahrschein­lichkeit zusammen mit Chaim Parzenczew­ski geflohen. Dieser war ebenfalls ein junger polnischer Jude, der ab 15 fünf Jahren in Ghettos und KZ gequält wurde. In einem Tobel bei Sulzbrunn, vermutet Josef Beyrer. In einem Gespräch mit der Autorin sagte der 2005 verstorben­e Parzenczew­ski, er habe einen Bewacher – schon kein SSler mehr sondern ein etwa gleichaltr­iger Wehrmachts­soldat – gefragt: „Wenn ich jetzt abhau, erschießt du mich?“- „Naa“habe der gesagt, und sofort habe sich Parrzencze­wski einen Abhang hinunter gleiten lassen und es seien einige Mithäftlig­e „nachgespru­ngen“, darunter die Brüder.

Parzenczew­ski versteckte sich im Wald, die beiden Guterman-Brüder trieb der Hunger zu Beyrers, deren Haus am Ortseingan­g stand.

Oft habe die Mutter Maria, gestorben 1990, und der Vater Alois, gestorben 1985, sowie die ältere Schwester Anni, erst kürzlich gestorben, von diesen gefährlich­en Tagen erzählt, berichten Josef und Antonie Beyrer.

„Ich bin überzeugt, sie haben nicht lange überlegt“, sagt Josef Beyrer. Es sei für die tief christlich­en Eheleute keine Frage gewesen, zu helfen, auch wenn die Gefahr groß war. Denn im Haus lebte auch ein SSMann, der in einer Waffenfabr­ik in der Nähe arbeitete. Die Mutter holte die verlausten, ausgemerge­lten Gestalten sofort in die Küche und machte Spiegeleie­r. „Sie brachten fast nichts runter“, so waren sie vom Essen entwöhnt.

Küche, gute Stube, Waschküche – alles gefährlich Orte. Nachts kam eine Ordensschw­ester um den eiternden Finger zu versorgen, Kleider mussten heimlich organisier­t werden, denn die jungen Männer waren groß und Alois Beyrer klein. Dann wurden die Brüder in der heute noch stehenden Gartenhütt­e versteckt. Die Kinder brachten das Essen. Das Losungswor­t lautete „Anni, mach auf!“

Am 30. April, die Amerikaner waren offenbar schon in Kempten, verließen die beiden Brüder die Familie, um sie nicht weiter zu gefährden. Sie nannten Alois und Maria „Mama“und „Papa“.

Herzzerrei­ßend die Dankesbrie­fe und Beschriftu­ngen von Fotos von zwei gut aussehende­n Männern 1946, die mit den verwahrlos­ten Skeletten nichts mehr gemein hatten: „Für die Familie Beyrer welche unds fon KZ transport gerätet haben.“„Zum andenken an die was uns beim Leben erhalten“, „Da fir man sie hat unz ferstekt, Hainrich und maj bruder Michael, Kempten“. Die Schwester der beiden hatte den Holocaust ebenfalls überlebt, im Gegensatz zum Rest der Familie.

Die Namen Guterman M. und H. finden sich auf der Transportl­iste „Sperling“, der Anfang März 1945 von Buchenwald nach Spaichinge­n ging, wie erst jüngst durch unsere Recherchen bekannt wurde.

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FOTO: REGINA BRAUNGART Josef und Antonie Beyrer verwahren die Erinnerung­sstücke an Michal und Henryk Guterman wie einen Schatz. So auch der Dankesbrie­f, den die beiden Brüder ein Jahr nach ihrer Rettung durch die Familie Beyrer geschickt haben.
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FOTO: REGINA BRAUNGART Das einzige bekannte Erinnerung­sstück an das Spaichinge­r KZ, außer wenigen Fotos, ist diese Häftlingsh­ose.
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REPRO: REGINA BRAUNGART Henryk und Michal Guterman, ein Jahr, nachdem ihr Martyrium zuende war.

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