Erst schummeln, dann tricksen
Wie VW die Klagen seiner Kunden abwendet
RAVENSBURG - Die Zeit läuft für den Volkswagen-Konzern – und gegen die Kunden des weltgrößten Autobauers. Seit die US-Umweltbehörde EPA am 19. September 2015 öffentlich gemacht hat, dass der Wolfsburger Autobauer bei der Abgasreinigung seiner Dieselautos systematisch betrogen hat, tickt die Uhr. Ende des Jahres beginnen die Ansprüche der VW-Kunden zu verjähren. Drei Jahre zum Ende eines Kalenderjahres ab Kenntnis des Schadens – so berechnet sich die Zeitspanne, in der ein Schaden geltend gemacht werden muss. Wenn Richter den Geschädigten glauben, dass sie das Ausmaß des Betrugs erst im Jahr 2016 abschätzen konnten, verlängert sich die Frist möglicherweise bis Ende 2019. Klar ist aber, jeder Monat, der ohne Klagen verstreicht, nützt VW.
Die Gegner des Konzerns, die Anwälte, die die betrogenen Kunden vertreten, erheben mit Blick auf die ablaufenden Verjährungsfristen jetzt schwerwiegende Vorwürfe gegen VW. Der Autobauer soll, so die Argumentation, die Klagen wegen des weltweit elf Millionen Mal eingebauten Schummelmotors EA 189 als aussichtslos darstellen, um die Zahl der Rechtsstreitigkeiten so gering wie möglich zu halten. Das einzige Angebot, das das Unternehmen mache, sei ein noch nicht ausreichend getestetes Update für die Motorsoftware. „VW versucht aus unserer Sicht bewusst, ein falsches Bild zu zeichnen, um den Geschädigten offensichtlich zu suggerieren, eine Klage hätte keine Aussicht auf Erfolg“, erklärt Ralf Stoll, Rechtsanwalt der Kanzlei Stoll & Sauer mit Sitz in Lahr und Freiburg. „Gleichzeitig werden die Sorgen der Autofahrer bezüglich Wertverlusten und Folgemängeln aufgrund des Updates abgetan“, erklärt Julius Reiter, Rechtsanwalt der Düsseldorfer Kanzlei Baum, Reiter & Collegen. Bewusst provozierte Niederlagen? Volkswagen habe zwar recht, dass die Richter die ersten Klagen von VWFahrern gegen Händler oder den Konzern meist zugunsten des Autobauers entschieden haben, „allerdings waren diese Klagen von vornherein zum Scheitern verurteilt“, erläutert Marco Rogert, Rechtsanwalt der Düsseldorfer Kanzlei Rogert & Ulbrich. Enweder sei man gegen den Händler, der von dem Betrug in der Regel nichts wusste, wegen arglistiger Täuschung vorgegangen oder man habe „nicht substanziiert“vorgetragen. „Ich habe den Verdacht, dass man in diesen Fällen bewusst Kanzleien hat vor Gericht ziehen lassen, um Entscheidungen zu generieren, die man dann positiv für sich ins Feld führen kann“, sagt Rogert, dessen Kanzlei nach eigenen Angaben schon mehr als 7000 Mandanten im Kampf gegen Volkswagen vertritt.
Doch sowohl die Klagen als auch die Ansichten der Richter haben sich aus Sicht der Verbraucheranwälte geändert. „Wir haben den Eindruck, dass sich die Rechtsprechung vermehrt auf die Seite der Verbraucher schlägt“, sagt zum Beispiel Rechtsanwalt Reiter. Sein baden-württembergischer Kollege Stoll spricht von einer „deutlichen Kehrtwende“. Inzwischen „gewinnen wir massenweise Verfahren gegen VW“, sagt Stoll.
„VW versucht bewusst, ein falsches Bild zu zeichnen.“Verbraucheranwalt Ralf Stoll
Aus diesem Grund sollten Kunden, die ein Auto mit dem Schummelmotor EA 189 fahren, aus Sicht von Verbraucheranwälten auf jeden Fall überlegen, ob sie nicht auf Rückabwicklung des Kaufs klagen. Im Erfolgsfall können sie dann das Auto gegen Erstattung des Kaufpreises zurückgeben abzüglich einer Nutzungsgebühr für die gefahrenen Kilometer. „Wenn Betroffene zu einem spezialisierten Anwalt gehen, haben sie derzeit eine Erfolgsquote von nahezu 100 Prozent“, sagt Rechtsanwalt Rogert. Sein Biberacher Kollege Florian Günthner von der Kanzlei Hiller, Bartholomäus & Partner ist derselben Meinung: „Ich rate Kunden, die einen EA-189-Motor in ihrem Auto haben, zu klagen.“
Als Beispiel führen die Verbraucheranwälte vor allem den Beschluss des Oberlandesgerichts Köln vom 27. März an. „Das Gericht ist der Ansicht, dass selbst dann, wenn ein Softwareupdate aufgespielt wurde, noch ein Rücktritt möglich ist“, sagt Stoll. Zudem habe das Gericht VW verpflichtet, „die Wirkung des Updates auf den Motor konkret darzulegen“, wie Florian Günthner hinzufügt.
Julius Reiter verweist auf die Entscheidung des Landgerichts Gießen vom 6. März. In dem Fall „haben wir ein Urteil gegen den VW-Konzern wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung und wegen Betrugs erstritten, das inzwischen rechtskräftig geworden ist“, erklärt Reiter.
Das Oberlandesgericht Hamm hat nach einer mündlichen Verhandlung am 11. Januar mitgeteilt, dass „der Senat die Abschaltvorrichtung des Fahrzeugmotors als Sachmangel des Fahrzeugs beurteilen könnte sowie von einer für den Käufer unzumutbaren Nachbesserung ausgehen könnte“. Die Abschaltvorrichtung ist das System, das den EA 189 zum Schummelmotor macht, die unzumutbare Nachbesserung das von Volkswagen angebotene Update. „Deutlicher kann es das Oberlandesgericht nicht mehr machen“, sagt Ralf Stoll. Zu einem Urteil kam es in Hamm nicht, Volkswagen bot dem Kläger zuvor einen Vergleich an. Typisch, meint Günthner. „VW fährt definitiv die Strategie, Urteile vor Oberlandesgerichten zu verhindern“, sagt der Biberacher Anwalt. In dem Fall wären alle Gerichte des fraglichen Gerichtsbezirks an das Urteil des Oberlandesgerichts gebunden und alle VW-Fahrer könnten gefahrlos klagen. VW weist die Vorwürfe der Kanzleien vehement zurück. „Die Gerichte folgen mehrheitlich der Rechtsauffassung von Volkswagen“, sagt Sprecher Nicolai Laude. Der Anteil der klageabweisenden, erstinstanzlichen Urteile sei seit mehreren Monaten stabil und liege bei rund 70 Prozent. Es sei auf keinen Fall so, dass man schlecht vorbereitete Kanzleien habe vor Gericht ziehen lassen, um für VW günstige Urteile fällen zu lassen. „Volkswagen hat grundsätzlich kein Interesse an gerichtlichen Prozessen mit seinen Kunden“, erklärt Laude. „Wir haben zudem keinen Einfluss auf Klägerkanzleien, ihre Aktivitäten und ihre Strategien.“Auch treffe es nicht zu, dass das Unternehmen durch Vergleiche systematisch Urteile vor Oberlandesgerichten verhindere. „VW ist überzeugt von seiner Rechtsauffassung. Daher gehen wir davon aus, dass Oberlandesgerichte auch künftig überwiegend Volkswagens Position bestätigen werden“, sagt Laude. Zu den Urteilen in zweiter Instanz führt der Autobauer unter anderen die Entscheidung des Oberlandesgerichts in Dresden vom 1. März an. Nach Ansicht der Richter hatte das Auto nach Aufspielen des Softwareupdates keinen Mangel mehr.
Genau das ist auch die Rechtsauffassung, die Volkswagen vertritt, dass nämlich alle Klagen schon deswegen unbegründet sind, weil die Kunden keinen Schaden erlitten haben. „Nach unseren aktuellen Erkenntnissen hat sich der Wiederkaufswert der EA-189Fahrzeuge durch die Dieselthematik nicht verringert“, sagt Nicolai Laude. „Die Kunden haben keine Verluste oder Schäden erlitten. Die Thematik berührt weder die Sicherheit noch die Fahrbereitschaft der betroffenen Fahrzeuge.“Deshalb stellt sich für VW die Frage nach einer Entschädigung nicht.
Dass VW gerade versuche, so viele Kunden wie möglich von einer Klage abzuhalten ist aus Sicht von Ralf Stoll „ein typischen Vorgehen eines Konzerns in Massenverfahren“. Volkswagen will „von den eigenen Verfehlungen ablenken und schiebt den Schwarzen Peter den Verbraucherkanzleien zu“, sagt der Anwalt. Sein Düsseldorfer Kollege Julius Reiter nennt es „völlig legitim, wenn der strukturell gegenüber einem Autokonzern unterlegene Verbraucher fachanwaltliche Hilfe benutzt“. Auch ein Konzern wie VW bewege sich nicht im rechtsfreien Raum, sagt Reiter, „wenngleich das Unternehmen mit seinem Verhalten dies in Deutschland für sich in Anspruch zu nehmen scheint“.
„Die Gerichte folgen der Rechtsauffassung von Volkswagen.“VW-Sprecher Nicolai Laude
Strategie rechnet sich für VW Die Strategie „rechnet sich“für VW, glaubt auf alle Fälle Florian Günthner. „Die Lösung über Klagen anstatt über eine pauschale Entschädigung ist für den Konzern günstiger“, sagt der Biberacher Anwalt. Viel wichtiger wäre seinen Mandanten allerdings ein ehrlicherer Umgang mit dem Betrug seitens VW gewesen, sagt Günthner. Eine Entschuldigung und ein „symbolischer Betrag von wenigen Hundert Euro“hätten den meisten gereicht. Nicht wie in den USA, dort forderten die VW-Kunden Entschädigungen von mehreren Tausend Euro. Und vor allem: Sie haben sie bekommen.