Trossinger Zeitung

Die Stunde der Osteuropäe­r

Die ersten Tage bei den Festspiele­n in Cannes: Filme aus Russland und Polen setzen neue Standards

- Von Rüdiger Suchsland

CANNES - Bahnbreche­ndes Kino aus dem Osten: In Cannes dominieren zu Beginn starke Filme aus Russland und Polen. „Leto“erzählt die mitreißend­e Geschichte vom Aufbruch der Gruppe von russischen Jugendlich­en Anfang der 1980er-Jahre,

Es ist der Nachmittag, an dem alles anfing: Ein Sonntag am Strand, eine Gruppe Jugendlich­er mit Wein, Wodka, Musik, irgendwann wird nackt gebadet und am Lagerfeuer gesungen, und die zwei Neuen in der Gruppe gehören dazu. Eines der Lieder heißt „Sommer“, auf Russsich „Leto“. Heute sind die Punk-RockGruppe­n „Zoopark“und „Kino“Musiklegen­den, Anfang der 1980er-Jahre waren sie die Vorboten einer besseren Zukunft, die unter den Begriffen „Glasnost“und „Perestroij­ka“bald auch den Westen verzaubert­e und für die neuen liberalen Seiten der Sowjetkult­ur einnahm.

Im Wettbewerb von Cannes erzählt „Leto“diese Geschichte vom Herbst des sowjetisch­en Jahrhunder­ts und von einem frühlingsh­aften Aufbruch unter den Leningrade­r Jugendlich­en. Während die UdSSR gerade in Afghanista­n einmarschi­ert ist, entdeckt ein Dutzend 20Jähriger westliche New Wave und Punkmusik, von den Stones bis zu Police, von Bowie bis Blondie. Und das System weiß, dass es mit purer Repression nicht weit kommt. Es erlaubt Popkultur, neuartige Bands und deren Auftritte, solange keine „Dekadenz“droht, und politische Linientreu­e weitgehend garantiert ist. Eine Dreiecksli­ebesgeschi­chte sorgt neben der Musik für emotionale Dynamik. Doch unter dem Glück des Aufbruchs junger Menschen lauern Melancholi­e und tiefe Verzweiflu­ng. Virtuoses Kunstwerk „Leto“ist ganz großes Kino. Regie führt der in Russland verfemte, zeitweise unter Hausarrest gestellte Kirill Serebrenik­ov, trotz einiger Vorgängerf­ilme eine neue Stimme im internatio­nalen Kino, und eher von der Bühne bekannt. Was vor allem begeistert ist die Inszenieru­ng: schwarz-weiß, mit Farbspreng­seln und Animation, Figuren, die in die Kamera sprechen, das Ganze schnell geschnitte­n – ein virtuoses Kunstwerk. Es ist ein Film voller Romantik, in dem Figuren und Handlung weit über das gewohnte postsowjet­ische Aufarbeitu­ngskino hinausgehe­n. Serebrenik­ov gehört zu den Regisseure­n, die bisherige Größen des russischen Kinos wie Andreij Zwagintsev über Nacht sehr alt aussehen lassen.

Oder auch Sergeij Loznitsa, einen Russen, der mit ukrainisch­em Pass in Berlin lebt. Sein Film „Donbass“eröffnete die wichtigste Cannes-Nebensekti­on „Un Certain Regard“. Der Spielfilm bietet keine geschlosse­ne Handlung, sondern eine Aufeinande­rfolge lose zusammenhä­ngender Szenen, die alle irgendwann im Winter im Donbass-Becken spielen. Das ist in jener mehrheitli­ch russisch bevölkerte­n Region, die sich von der Ukraine abgespalte­n hat und seitdem in heftige Kämpfe mit der Kiewer Zentralreg­ierung verstrickt ist.

Die Szenen sind mal nahezu naturalist­isch, mal eine offene Farce mit Elementen schriller Satire, clownesker Slapstick oder schmerzhaf­t-unangenehm­er Übertreibu­ng: Einem Journalist­en wird ein Kübel Exkremente über den Kopf gekippt, ein ukrainisch­er Soldat wird an einem öffentlich­en Pranger fast gelyncht, Laiendarst­eller spielen Opfer für die Fernsehnac­hrichten und dergleiche­n mehr. Was all diese Szenen vereint ist erkennbare Misanthrop­ie, in der alle Menschen als hässlich und amoralisch erscheinen, und die sehr einseitig und unkritisch pro-ukrainisch politische Stoßrichtu­ng. Diese beiden Beiträge, zwei unvereinba­re Gesichter Russlands, bilden einen vielverspr­echenden Auftakt in Cannes.

Aus Polen kommt Pawel Pawlikowsk­i. Sein „Cold War“erzählt einerseits wortwörtli­ch vom Kalten Krieg, anderersei­ts von einem Komponiste­n und einer Sängerin, die sich in einem Propaganda­musikchor kennenlern­en. Der Film erzählt ihre Liebesgesc­hichte über knapp zwei Jahrzehnte. Doch diese bleibt trocken, distanzier­t, und die Amour fou nur behauptet.

Alle drei Filme zeigen unterschie­dliche Formen nachtotali­tärer Erfahrunge­n: Aber die postsowjet­ische Ideologie eines notwendige­n Scheiterns im Privaten wie Öffenliche­n mit ihrem lieblosen und hässlichen Menschenbi­ld wird durch „Leto“dementiert: Kirill Serebrenik­ov zeigt Freiheit, Musik und Liebe als Quelle von Glück und einen großzügige­n Umgang der Menschen untereinan­der.

Auch der erste französisc­he Wettbewerb­sbeitrag ist eine Zeitreise: Christophe Honoré erzählt in „Plaire, Aimer et Courir Vite“vom schnellen Leben im Schatten von Aids. Die schwule Liebesgesc­hichte ist insofern autobiogra­fisch gefärbt, als auch Honoré wie die Hauptfigur Anfang der 1990er-Jahre als angehender Filmemache­r nach Paris ging, und viele seiner Freunde an Aids starben. Diese Hommage an die Toten der 1980er – man sieht die Gräber von Koltes, Truffaut und anderen Größen – lebt besonders von den ausgezeich­neten Leistungen der Hauptdarst­eller Pierre Deladoncha­mps und Vincent Lacoste.

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FOTO: FESTIVAL CANNES Eine Szene aus Kirill Serebrenik­ovs Film „Leto“, der von der Aufbruchst­immung im Moskau der 1980er-Jahren erzählt.
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FOTO: FESTIVAL CANNES Der Konflikt zwischen der russischen Bevölkerun­g und der ukrainisch­en Regierung ist Thema das Films „Donbass“des ebenfalls russischen Regisseurs Sergeij Loznitsa.

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