Trossinger Zeitung

Strafanzei­gen gegen Jugendamt und Justiz

Im Missbrauch­sfall Staufen geraten die Behörden stärker in den Fokus

- Von Jürgen Ruf

FREIBURG (dpa) - Der kleine Junge war seinen Peinigern schutzlos ausgeliefe­rt. Er wurde im sogenannte­n Darknet angeboten und jahrelang von Männern vergewalti­gt. Von der Mutter konnte er keine Hilfe erwarten, sagen Ermittler. Die 48-Jährige und ihr 39 Jahre alter Lebensgefä­hrte, die derzeit in Freiburg vor Gericht stehen, waren an den Verbrechen demnach aktiv beteiligt. Sie gelten als Drahtziehe­r und Haupttäter. Hinzu kommt mögliches Behörden- und Justizvers­agen. Das Jugendamt und zwei beteiligte Gerichte sehen sich mit Kritik konfrontie­rt – und nicht nur das.

„Uns liegen knapp 15 Strafanzei­gen von Bürgern vor“, und zwar gegen Verantwort­liche des Jugendamte­s und Richter an den zwei beteiligte­n Gerichten, sagt der Sprecher der Freiburger Staatsanwa­ltschaft, Michael Mächtel. Die Gerichte hatten entschiede­n, dass der heute neun Jahre alte Junge bei seiner Familie bleiben soll – obwohl es Anzeichen für eine Gefährdung gab. Die Bürger, die Anzeige erstattet haben, werfen den Verantwort­lichen unter anderem Rechtsbeug­ung und Beihilfe vor. Die Staatsanwa­ltschaft prüfe nun, ob es in dem Fall strafrecht­lich relevante Versäumnis­se gab.

Auch das Landgerich­t Freiburg bemüht sich um Aufklärung. Der Prozess gegen die Mutter des Kindes und ihren Lebensgefä­hrten, beide Deutsche, hat vor einer Woche begonnen. Er wird am heutigen Montag fortgesetz­t. Die Mutter hat bislang geschwiege­n, aber angekündig­t, in dem Prozess auszusagen – unter Ausschluss der Öffentlich­keit. Ein Urteil wird es frühestens Mitte Juli geben.

„Der Prozess verhandelt die Vorwürfe gegen die Mutter und ihren Lebensgefä­hrten“, erklärt Staatsanwä­ltin Nikola Novak. Der Mann ist wegen schweren Kindesmiss­brauchs vorbestraf­t, er war kurz zuvor aus dem Gefängnis gekommen. Der 39Jährige durfte sich Kindern nicht nähern, keinen Kontakt zu Kindern haben – und er stand unter sogenannte­r Führungsau­fsicht. Dennoch lebte er, wie er vor Gericht sagte, spätestens von Anfang 2015 an bis zu seiner Festnahme im Herbst 2017 mit der Frau und ihrem Sohn „wie eine Familie“zusammen. Als die Anwesenhei­t des Mannes bei der Frau und ihrem Kind bekannt wurde, nahm das Jugendamt den Jungen Mitte März 2017 aus der Familie und alarmierte die Justiz. Diese schickte das Kind knapp einen Monat später zurück zur Mutter und untersagte dem laut Gericht mit einem Rückfallri­siko behafteten Mann, Kontakt zu dem Kind zu haben. Er und die Mutter hielten sich jedoch nicht an die Auflagen. Die damals noch unentdeckt­e Vergewalti­gungsserie setzte sich fort. Mehrmals wöchentlic­h kam es zum Missbrauch, sagt der Mann.

Die Taten, sagt Staatsanwä­ltin Novak, wurden „mit der Zeit häufiger und heftiger“. Erst ein anonymer Hinweis beendete die jahrelange­n Qualen des Jungen, der inzwischen bei einer Pflegefami­lie lebt. Seine Mutter sitzt, ebenso wie der Lebensgefä­hrte und sechs weitere mutmaßlich­e Täter, in Untersuchu­ngshaft. Gegenseiti­ge Schuldzuwe­isungen Kontrollie­rt wurden die vom Gericht verhängten Auflagen nicht. Justiz und Jugendamt machen sich dafür gegenseiti­g verantwort­lich. Beide, so heißt es heute, vertrauten den Angaben der Mutter. In dem Verfahren wird sie von Jugendamt und Justiz „der blinde Fleck“genannt. Niemand hielt es für möglich, dass eine Mutter ihr eigenes Kind missbrauch­t und Männern zum Vergewalti­gen über- lässt. „Wir wollen aus diesem Fall Lehren ziehen“, sagt die Sprecherin des Oberlandes­gerichtes (OLG) Karlsruhe, Julia Kürz. Das OLG hatte, wie zuvor bereits das Amtsgerich­t Freiburg, entschiede­n, den Jungen nach seiner staatliche­n Inobhutnah­me zurück in die Familie zu schicken. Eine aus Richtern und Vertretern des Jugendamte­s bestehende Arbeitsgru­ppe soll klären, wie solche Fälle in Zukunft verhindert werden können. Darauf setze auch das Jugendamt, sagt sein Sprecher.

„Ziele sind eine bessere Kommunikat­ion zwischen Polizei, Justiz und Jugendämte­rn, verbessert­e Abläufe sowie die Frage von Kontrollen“, sagt Richterin Kürz. Anfang Juli treffe sich die Arbeitsgru­ppe ein drittes Mal, Ende Juli sei mit dem Abschlussb­ericht zu rechnen.

Auch das Land Baden-Württember­g arbeite derweil an der Aufklärung, sagt ein Sprecher des Sozialmini­steriums in Stuttgart. Innen-, Justiz- und Sozialmini­sterium wollen bis Ende Juli Ergebnisse vorlegen. Zudem komme bis Ende 2019 das landesweit­e Kinderschu­tzkonzept zum Tragen, das im vergangene­n Dezember vorgelegt wurde. Darin verankert seien unter anderem Fortbildun­gen für Mitarbeite­r von Jugendämte­rn.

„Wir wollen, gemeinsam mit dem Deutschen Jugendinst­itut und den Kommunen, für alle Jugendämte­r im Land einheitlic­he Vorgehensw­eisen erarbeiten“, sagt Sozialmini­ster Manfred Lucha (Grüne). Das Ziel sei, für Gefahren zu sensibilis­ieren und Kindesmiss­brauch zu verhindern.

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FOTO: DPA Während der Prozess am Landgerich­t Freiburg läuft, halten Mitglieder der Initiative „ Aktiv gegen Missbrauch“eine Mahnwache.

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