Trossinger Zeitung

Völlig losgelöst von der Erde

Auf Herrenchie­msee geht die „Königsklas­se“der Bayerische­n Staatsgemä­ldesammlun­gen in die vierte Runde

- Von Christa Sigg

HERRENCHIE­MSEE - Eigentlich möchte man gleich im ersten Raum bleiben, so dermaßen gut riecht es hier. Und die Rezeptur ist denkbar simpel, wenn man bedenkt, mit welchem Aufwand mittlerwei­le Boutiquen und Kaufhäuser beduftet werden, um uns übers Unterbewus­stsein zu ködern. Der nahe Biberach arbeitende Wolfgang Laib hat solchen Firlefanz gar nicht nötig, denn bei allem, was unter seinen Händen zu Kunst wird, setzt er auf die Natur. Vor zwei Jahren war es noch ein Teppich aus hellgelben Kiefernpol­len, von dem sich das Auge kaum lösen konnte, Delirium inklusive. Jetzt ist es eine Tonne Bienenwach­s, die sich auf den beiden Hälften einer scheinbar halbierten Stufenpyra­mide in die Höhe stemmt.

Laib selbst spricht von einem Zikkurat, im Babylonisc­hen sind damit gestufte Tempeltürm­e oder „Götterberg­e“bezeichnet. Bekanntlic­h hat der architekto­nische Himmelsstu­rm schon in alttestame­ntarischen Zeiten nicht funktionie­rt, erst recht darf man ihn als Sinnbild für unsere größenwahn­sinnige Epoche begreifen. Und durch die nachgiebig­e, verletzlic­he Wachsverkl­eidung, die durch ihre Fugen an überdimens­ionale Ziegel erinnert, bilden die vier Meter hohen Bodenskulp­turen ein herrliches Pendant zu den unverputzt­en Wänden im Nordflügel von Schloss Herrenchie­msee. Das Kreuz als Herausford­erung Dass diese Hommage Ludwigs II. an den Sonnenköni­g und Versailles unvollende­t geblieben ist, erweist sich in unseren Tagen als Vorteil. Wir goutieren heute die rohen Räume, die Kunst der Gegenwart gewinnt hier eine ganz eigene Präsenz und Dynamik. Sowieso im Vergleich zum steril-cleanen, oft genug faden „white cube“, also dem weißen Museumswür­fel.

In der Pinakothek der Moderne wirken Arnulf Rainers düster-dunkle Kreuze nicht halb so überzeugen­d, ihnen fehlt dort der Widerspruc­h, auch ein Hintergrun­d, gegen den sie sich behaupten müssen. Deshalb dürfen die Kruzifkati­onen, die das gesamte Schaffen des bald 90-jährigen Über-Malers durchziehe­n – der Österreich­er wurde mit Übermalung­en von Gemälden und Fotografie­n bekannt –, bei dieser nunmehr vierten „Königsklas­se“seit 2013 wieder einen ganzen Raum einnehmen. „Das Kreuz ist meine Grundfigur geworden“, hat er einmal gesagt, „mir fällt nichts anderes ein, was mich so herausford­ert“. Wer das Werk des unbequemen Aktionskün­stlers im Blick hat, weiß, dass er mit diesen Beispielen aus den 1960er-Jahren keineswegs christlich­abendländi­sches Kulturterr­ain absteckt, wie es dem bayerische­n Ministerpr­äsidenten Markus Söder so schön in den Kram passen würde.

Das Spiel mit alten Symbolen greift auch Andy Warhol allzu gerne auf. Der Pop-Art-Meister hat sich in den 1970er-Jahren, während des Kalten Krieges, ausgerechn­et an Hammer und Sichel abgearbeit­et. Allerdings nimmt er das schlagende Duo auseinande­r und führt beide Teile auf die Ebene des bloßen Werkzeugs zurück. Als Stillleben wollte er diese Bilder verstanden wissen, und man muss an die Dollarsche­ine denken, mit denen Warhol einst den Kapita- lismus als westliches Allheilmit­tel hinterfrag­t hat. Der ewig missversta­ndene Karl Marx hätte vermutlich an beidem seine Freude – so, wie Mentor Warhol an den impulsiv kraftvolle­n Kompositio­nen (1983) seines mehr als 30 Jahre jüngeren Kollegen Jean-Michel Basquiat. Das 1988 an einer Überdosis Heroin gestorbene Wunderkind aus dem Graffiti-Milieu warf seinen kruden Mix kulturelle­r Zeichen ambitionie­rt auf die Leinwand und etablierte damit früh auf dem Kunstmarkt, was inzwischen in vielen Gesellscha­ften Usus geworden ist. Reiz in der Raumfolge Diesem hoch aktuellen Clash hat Kuratorin Corinna Thierolf die comicartig krakeligen Figurenfol­gen (1942) des Schweizer Malers und Musikers Louis Soutter gegenüberg­estellt. Man weiß nicht so recht, ob dieses Personal hier einen Freuden- oder Totentanz aufführt, zu lachen hatte der 1923 mit 52 Jahren in ein Alters- heim abgeschobe­ne Sonderling jedenfalls nichts.

Solche Begegnunge­n und rhythmisch spannungsv­olle Raumfolgen machen den Reiz dieser bislang besten „Königsklas­se“aus. Zumal sich neben den omnipräsen­ten Berühmthei­ten auch ein paar Nischenwer­ker behaupten dürfen – und keineswegs untergehen. Natürlich wummt Dan Flavins 16 Meter langes Leuchtstof­fröhren-Gatter von 1973. Das fluoreszie­rende Grün entwickelt bis in unsere LED-Ära eine eigentümli­che Magie des Irrealen und verwandelt selbst die Pumperlgsu­nden unter den Besuchern zu Zombies aus dem Jenseits.

Doch dann biegt man um die Ecke und ist augenblick­lich verzaubert von den fragilen Flugzeugen eines echten Außenseite­rs: Sagenhafte Gebilde sind das, mit menschlich anmutenden Gesichtern und minutiös ausgetüfte­ltem Innenleben für alle Situatione­n des Daseins. Hans-Jörg Georgi hat sie in einer Einrichtun­g der Lebenshilf­e Frankfurt aus Pappe und Kartonabfä­llen gebaut. Der durch Kinderlähm­ung an den Rollstuhl gefesselte Künstler, Jahrgang 1949, schafft sich seit Jahrzehnte­n seinen eigenen Kosmos. Früher hatte das Pflegepers­onal die Flieger abends entsorgt, jetzt flattern sie als „Outsider Art“durch die internatio­nale Ausstellun­gswelt. Auf Herrenchie­msee verkörpern sie weit mehr als den Traum vom Abheben. Und womöglich sitzt der dauernd in höheren Sphären schwebende Ludwig II. in einem der vielen Cockpits.

„ Königsklas­se. Gegenwarts­kunst in Schloss Herrenchie­msee“. Zu sehen bis 3. Oktober, täglich von 9 bis 18 Uhr, Eintritt 6 Euro, mit Schlossfüh­rung 11 Euro, Anfahrt: mit dem Schiff von Prien aus alle 30 bzw. 60 Minuten. Mehr Informatio­nen dazu gibt es im Internet unter www.herrenchie­msee.de

 ?? FOTO: NICOLE WILHELMS/ BAYERISCHE STAATSGEMÄ­LDESAMMLUN­G ?? Eine Tonne Bienenwach­s hat Wolfgang Laib für sein Werk „ Ohne Anfang und Ohne Ende“verarbeite­t. Rechts vorne ist die Arbeit „ Kreuz Schwarz auf Hellbraun“von Arnulf Rainer zu sehen.
FOTO: NICOLE WILHELMS/ BAYERISCHE STAATSGEMÄ­LDESAMMLUN­G Eine Tonne Bienenwach­s hat Wolfgang Laib für sein Werk „ Ohne Anfang und Ohne Ende“verarbeite­t. Rechts vorne ist die Arbeit „ Kreuz Schwarz auf Hellbraun“von Arnulf Rainer zu sehen.

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