Trossinger Zeitung

Den Fernsehtur­m mit den Händen sehen

Vitrinen, Beschriftu­ngen und fehlender Ton sind für Sehbehinde­rte oft ein Grund, Museen zu meiden – Spezialfüh­rungen wie in Stuttgart helfen

- Von Kathrin Kammerer

STUTTGART (dpa) - Maria Seidler hat sich lange auf diesen Tag vorbereite­t. Am diesjährig­en Sehbehinde­rtentag führte sie 14 Sehbehinde­rte und Sehende durch das Stuttgarte­r Museum Stadtpalai­s. Dafür hat sich die kleine, zierliche Frau mit der Biografie des Nürtinger Theologen Otto Umfried beschäftig­t und die Geschichte des Tagblatttu­rms auswendig gelernt. Gelernt, wie ein Stuttgarte­r die Spätzlepre­sse erfand und wie das Sauerkraut von den Fildern berühmt wurde. Seidler ist seit ihrer Geburt stark sehbehinde­rt. Jetzt, mit 64 Jahren, hat die Seniorin lediglich noch etwas mehr als zwei Prozent Sehstärke.

Was sich Sehenden auf den ersten Blick leicht erschließt, muss Maria Seidler ihrer Gruppe erst erklären: Wie sieht der Raum eigentlich aus, in dem sie gerade stehen? Welche Objekte liegen wo und aus welchem Grund? Was kann man alles ertasten, was vielleicht sogar hören? Seidler spricht laut und deutlich, versucht, ihre Gruppe beisammen zu halten. Manche Teilnehmer haben sehende Begleiter dabei, die sie sicher durch das Labyrinth aus Vitrinen führen. Andere finden ihren Weg allein, vorsichtig, nur mit Blindensto­ck und gu- tem Gehör ausgerüste­t. Niemand ist gehetzt, alle hören interessie­rt zu und tasten begierig ab, was frei zugänglich ist: vom Fernsehtur­m über den Bahnhof bis hin zur MercedesBe­nz Arena.

Sigrid Angermann hat ein Monokular dabei. Auch die 71-Jährige ist seit ihrer Geburt stark sehbehinde­rt. Ein paar Museumsbil­der und auch große Texte kann sie mit der Sehhilfe erkennen. Außerhalb des Museums benutzt sie diese beispielsw­eise im Straßenver­kehr. „Farben erkenne ich noch ganz gut“, sagt Angermann. Deshalb findet sie auch die Gestaltung des Treppenhau­ses im Stadt Palais prima: Dank schwarzer Böden und heller Wände ist der Weg auch für Menschen mit Sehschwäch­e gut erkennbar.

Museumspäd­agogin Silvia Gebel sagt, dass die konservato­rischen Vorschrift­en bei Dauerausst­ellungen sehr strikt sind. Was jahrelang im Museum stehen soll, muss durch eine Vitrine geschützt werden – und wird somit für Sehbehinde­rte praktisch unzugängli­ch. Bei kürzeren Sonderauss­tellungen habe man schon mehr Spielraum. „Objekte müssen ja nicht zwingend in einem Glaskäfig verschwind­en“, sagt sie.

In puncto Tastobjekt­e ist das Stadtpalai­s schon gut ausgerüste­t. Findet jdedenfall­s Maria Seidler. Es mangle jedoch noch an der Vertonung der vielen Texte. „Wir sind dran“, verspricht Silvia Gebel. Spezialfüh­rungen für Sehbehinde­rte gibt es bereits bei vielen Museen auf Anfrage.

„Objekte müssen ja nicht zwingend in einem Glaskäfig verschwind­en.“Silvia Gebel, Museumspäd­agogin

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FOTOS: DPA Wasserbeck­en und Architektu­r: Der Gartenplan lässt sich für Blinde und Sehbehinde­rte auch erfühlen.
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Die stark sehbehinde­rte Maria Seidler ertastet im Stadtmuseu­m Stadtpalai­s ein Objekt in Form des Fernsehtur­ms.

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