Den Fernsehturm mit den Händen sehen
Vitrinen, Beschriftungen und fehlender Ton sind für Sehbehinderte oft ein Grund, Museen zu meiden – Spezialführungen wie in Stuttgart helfen
STUTTGART (dpa) - Maria Seidler hat sich lange auf diesen Tag vorbereitet. Am diesjährigen Sehbehindertentag führte sie 14 Sehbehinderte und Sehende durch das Stuttgarter Museum Stadtpalais. Dafür hat sich die kleine, zierliche Frau mit der Biografie des Nürtinger Theologen Otto Umfried beschäftigt und die Geschichte des Tagblattturms auswendig gelernt. Gelernt, wie ein Stuttgarter die Spätzlepresse erfand und wie das Sauerkraut von den Fildern berühmt wurde. Seidler ist seit ihrer Geburt stark sehbehindert. Jetzt, mit 64 Jahren, hat die Seniorin lediglich noch etwas mehr als zwei Prozent Sehstärke.
Was sich Sehenden auf den ersten Blick leicht erschließt, muss Maria Seidler ihrer Gruppe erst erklären: Wie sieht der Raum eigentlich aus, in dem sie gerade stehen? Welche Objekte liegen wo und aus welchem Grund? Was kann man alles ertasten, was vielleicht sogar hören? Seidler spricht laut und deutlich, versucht, ihre Gruppe beisammen zu halten. Manche Teilnehmer haben sehende Begleiter dabei, die sie sicher durch das Labyrinth aus Vitrinen führen. Andere finden ihren Weg allein, vorsichtig, nur mit Blindenstock und gu- tem Gehör ausgerüstet. Niemand ist gehetzt, alle hören interessiert zu und tasten begierig ab, was frei zugänglich ist: vom Fernsehturm über den Bahnhof bis hin zur MercedesBenz Arena.
Sigrid Angermann hat ein Monokular dabei. Auch die 71-Jährige ist seit ihrer Geburt stark sehbehindert. Ein paar Museumsbilder und auch große Texte kann sie mit der Sehhilfe erkennen. Außerhalb des Museums benutzt sie diese beispielsweise im Straßenverkehr. „Farben erkenne ich noch ganz gut“, sagt Angermann. Deshalb findet sie auch die Gestaltung des Treppenhauses im Stadt Palais prima: Dank schwarzer Böden und heller Wände ist der Weg auch für Menschen mit Sehschwäche gut erkennbar.
Museumspädagogin Silvia Gebel sagt, dass die konservatorischen Vorschriften bei Dauerausstellungen sehr strikt sind. Was jahrelang im Museum stehen soll, muss durch eine Vitrine geschützt werden – und wird somit für Sehbehinderte praktisch unzugänglich. Bei kürzeren Sonderausstellungen habe man schon mehr Spielraum. „Objekte müssen ja nicht zwingend in einem Glaskäfig verschwinden“, sagt sie.
In puncto Tastobjekte ist das Stadtpalais schon gut ausgerüstet. Findet jdedenfalls Maria Seidler. Es mangle jedoch noch an der Vertonung der vielen Texte. „Wir sind dran“, verspricht Silvia Gebel. Spezialführungen für Sehbehinderte gibt es bereits bei vielen Museen auf Anfrage.
„Objekte müssen ja nicht zwingend in einem Glaskäfig verschwinden.“Silvia Gebel, Museumspädagogin