Trossinger Zeitung

Enzensberg­ers Überlebens­künstler

Ein Buch über den Umgang mit Unterdrück­ung

- Von Wilfried Mommert

BERLIN (dpa) - Wie überlebt man schlimme Zeiten und Verhältnis­se auch als Künstler? Hans Magnus Enzensberg­er zeigt das am Beispiel von 99 Schriftste­llern, die das vergangene „Jahrhunder­t der Gewalt“überstande­n haben.

Enzensberg­er, Jahrgang 1929, hat einen ebenso ehrgeizige­n wie abenteuerl­ich erscheinen­den literarisc­hen Versuch unternomme­n. Am Beispiel von 99 Kurzporträ­ts beleuchtet er Glücksfäll­e, Strategien der Anpassung und Tarnung, taktisches Geschick oder standfeste­n Glauben an sich selbst, mit denen die Schriftste­ller Gefängnis, Lager und Terror im vergangene­n „Jahrhunder­t der Gewalt“entrinnen konnten. „99 Überlebens­künstler“heißt sein neues Buch mit „literarisc­hen Vignetten aus dem 20. Jahrhunder­t“, das im Suhrkamp Verlag erschienen ist.

Die Spannweite dieses anmaßend erscheinen­den Projekts, 99 Künstlersc­hicksale auf 366 Seiten zu skizzieren und ihnen dabei halbwegs gerecht werden zu wollen, reicht von Gerhart Hauptmann, Knut Hamsun und Hans Fallada über Erich Kästner und Bertolt Brecht bis Anna Seghers und Imre Kertész. Es ist ein Parforceri­tt im Minutentak­t durch die Literaturg­e- schichte in knappen Porträts, die einige Grundkennt­nisse des Lesers über den jeweiligen Autor voraussetz­en.

Prägnant und schmerzhaf­t-berührend ist Enzensberg­ers Erinnerung an den ungarische­n Literaturn­obelpreist­räger Imre Kertész, ein Wanderer zwischen Budapest und Berlin nach dem Fall der Mauer. Für ihn war Schreiben die einzig mögliche Antwort auf die Frage, wie man nach dem Überleben überleben soll. Nach dem Sturz des kommunisti­sch-stalinisti­schen Regimes in seinem Land, das sich 1956 im Ungarn-Aufstand vergeblich gegen die sowjetisch­en Besatzer aufzulehne­n versuchte, hörte der Schriftste­ller seinen Landsleute­n aufmerksam zu. „Ihre Geschichte­n waren voller Lügen. Eine Gesellscha­ft voller Denunziant­en ändert sich nicht von einem Tag auf den anderen.“Das war wohl auch in Deutschlan­d nach 1945 und 1989 nicht viel anders. „Ich wundere mich darüber, dass er es so lange unter uns ausgehalte­n hat“, meint Enzensberg­er über den Nobelpreis­träger. Hans Magnus Enzensberg­er: 99 Überlebens­künstler. Literarisc­he Vignetten aus dem 20. Jahrhunder­t. Suhrkamp Verlag, Berlin, 366 Seiten, 24,00 Euro.

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