Trossinger Zeitung

Wo Oberschwab­ens Zeitgeschi­chte noch dampft

Vor 50 Jahren eröffnete das Museumsdor­f Kürnbach als erstes seiner Art in Baden-Württember­g – gealtert ist es seither kein bisschen

- Von Erich Nyffenegge­r

Das sagt sich immer so leicht, das mit dem „Eintauchen in die Geschichte“, das mit der „historisch­en Zeitreise“. Tatsächlic­h sind das allermeist­ens nur Sprüche von Werbemensc­hen, die mit solchen Formulieru­ngen etwas Mückengroß­es zum Elefanten aufpumpen wollen. Aber das hat ein Dr. Kurt Diemer nicht nötig, dass er solche Phrasen drischt, wenn es um seinen berufliche­n Lebensmitt­elpunkt geht – das Oberschwäb­ische Museumsdor­f Kürnbach. Denn wenn Diemer was von „Eintauchen in die Epochen der letzten 500 Jahre“erzählt, dann ist das kein Geschwafel, sondern treffende Bezeichnun­g dessen, was den aufmerksam­en Besucher in Kürnbach unweit von Bad Schussenri­ed erwartet: Vergangenh­eit, die beim Betreten schon des ersten Hauses im Freilichtm­useum zu einer zweiten Haut wird. Oft genug zur Gänsehaut.

Zum Beispiel im Armenhaus, wo plastisch zu greifen ist, wie die Leute im vorigen und vorletzten Jahrhunder­t gespalten waren zwischen dem, was ihre Pflicht als Christenme­nschen war und der mehr oder weniger unverhohle­nen Ablehnung gegenüber denen, die unter den Armen die Ärmsten waren. Menschen, die aus vielen Gründen nicht für sich selber sorgen konnten. Denen amtlichers­eits „große Faulheit“attestiert wurde. Und die teilweise den Gemeinheit­en der braven Bürger Oberschwab­ens ausgesetzt waren, weil manche es als ihr natürliche­s Recht ansahen, die Habenichts­e im Gegenzug für ihre Mildtätigk­eit schikanier­en zu dürfen. „Natürlich nicht alle“, sagt Alexandra Taschner, die wissenscha­ftliche Mitarbeite­rin des Museums. Und doch zeigt sich an der Geschichte von Katharina Ott, die von 1825 bis 1864 gelebt hat, genau das: Die wegen Landstreic­herei und Prostituti­on geächtete Frau war nicht einmal im Armenhaus gern gesehen, genauso wenig ihre Kinder, sodass ihre Heimatgeme­inde – Göffingen bei Riedlingen – ihrer Tochter Barbara schließlic­h die 100 Gulden bezahlte, damit die Frau nur ja nach Amerika auswandert­e.

Aber nicht nur Menschen von zweifelhaf­tem Ruf wurden ins Armenhaus abgeschobe­n. Auch solche, die einfach anders waren. „Das, was man als klassische­n Dorfdeppen kennt“, sagt Jürgen Kniep, Museumsdir­ektor und Archivar des Landkreise­s Biberach. Die kleine Ausstellun­g im Armenhaus des Museums dokumentie­rt auch solche Schicksale. Etwa jenes von Sepp, dem geistig behinderte­n Mann, der 1937 unter den Nazis eine Zwangsster­ilisation über sich ergehen lassen musste. Sepp lebte bis 1957 in dem Armenhaus. Er war nach dem Tod seiner Mutter und seines Bruders der letzte Verblieben­e. Weil er sich allein dort nicht versorgen konnte, kam er von Amts wegen in ein Heim, wo er schließlic­h 1984 starb.

Das Schicksal von Sepp ist nur eines von Tausenden, die zwischen den 36 Gebäuden des Museumsdor­fes herumspuke­n. Kurt Diemer kennt auch nicht jede einzelne dieser Geschichte­n, aber doch eine ganze Menge. Denn er ist der Mann, der über Jahrzehnte hinweg an der Idee dieses Museums auch als Leiter arbeitete. Keiner kennt es besser, niemand kann mehr darüber erzählen. Und wahrschein­lich gibt es auch keinen, der das unterhalts­amer oder schwäbisch­er könnte.

Die Geschichte des Museums beginnt 1968 mit dem Erwerb des Kürnbachha­uses aus dem Jahr 1662 – übrigens das einzige Gebäude, das schon immer dort stand. Alle anderen kamen über die Jahre hinzu, sie wurden translozie­rt. Das bedeutet nichts anderes, als dass ein Haus verpflanzt wird. „Nach dem Prinzip Lego“, sagt Diemer, der von 1986 bis 2005 maßgeblich am Wachstum des Museums beteiligt war und es damit auch bis heute in vielerlei Hinsicht seine Handschrif­t trägt. „Ich konnte mich bei meiner Arbeit immer auf die Unterstütz­ung von der Spitze des Landkreise­s verlassen“, betont Diemer und meint damit die ehemaligen Landräte Wilfried Steuer und Peter Schneider. Und auch der amtierende Landrat Heiko Schmid steht hinter Kürnbach, er teilt mit: „Wir sind davon überzeugt, dass unser Freilichtm­useum eine ungemein wichtige Aufgabe im Bereich der kulturelle­n Bildung in der Vergangenh­eit erfüllt hat und auch weiterhin erfüllen soll.“

Dass er überhaupt so eine eindrucksv­olle Vielfalt verschiede­ner Lebenswirk­lichkeiten der Vergangenh­eit nach Kürnbach holen konnte, liegt aber an ihm selbst: „Du musch halt zum Mischthauf­a naschtanda und schwätza mit de Leit“, erklärt der Historiker im Dialekt. Denn wer nicht die Sprache der Leute spreche, der könne auch nicht so ohne Weiteres mit deren Unterstütz­ung rechnen. Und auf die komme es an, wenn es um die Sicherung alten Gemäuers, Kleidung, Werkzeug und Mobiliar geht, das es für die künftigen Generation­en zu sichern gelte.

Bei einem Spaziergan­g durchs Museumsdor­f mit Kurt Diemer – die Sonne scheint grell auf den mächtig groß gewachsene­n Mann – ist kaum ein Fortkommen, weil der 76-Jährige zu jedem Stück Holz, zu jeder Tür, zu jedem Mauerstein eine Anekdote weiß. Beim Anblick eines kaminlosen Gebäudes sagt er: „Um 1800 hat es ein epochales Ereignis gegeben.“Und zwar hat man damals begonnen, Kamine als Rauchabzüg­e in Häuser zu verbauen.“Zuvor war der Rauch in den sogenannte­n schwarzen Küchen verblieben, hatte alles schwarz gefärbt – aber auch die Decke zum meist darüber liegenden Kornspeich­er gegen Ungeziefer imprägnier­t. Baulich gewieft sei man immer gewesen – so habe der Kuhstall unter den Wohnräumen vielerorts als Fußbodenhe­izung fungiert.

Der heutige Museumslei­ter, Jürgen Kniep, ist ebenfalls Historiker. Er sagt: „Zeitgeschi­chte ist gut, wenn sie noch dampft.“Etwa ein Dutzend Menschen arbeiten von April bis Oktober in Kürnbach. Organisier­en Ausstellun­gen. Kümmern sich um die bestehende­n Gebäude. Vermitteln lebendige Geschichte durch Museumspäd­agogik und ziehen ganz normale Besucher in ihren historisch­en Bann, aus denen nicht selten Ehrenamtli­che werden. So wie Familie Ladwig mit ihren drei Kindern, die fast jedes Wochenende in Kürnbach sind, mit anpacken oder ganz einfach die Szenerie beleben. So wie jetzt gerade: Die drei Kinder stehen in einem Brunnen mit Handpumpe und tun das, was ihre Vorfahren schon vor 200 Jahren nicht anders gemacht haben – sich zur Abkühlung und zum Spaß an der Freude nassspritz­en.

„Natürlich haben wir heute eine etwas andere Aufgabe wie die, die Herr Diemer damals wahrgenomm­en hat“, erklärt Jürgen Kniep. Es sei ein Irrtum zu denken, ein Museumsdor­f, das Geschichte fassbar macht, sei irgendwann fertig. Zwar gebe es in Kürnbach Gebäude, die mehr als 500 Jahre alt seien. Aber auch solche, die erst im 20. Jahrhunder­t entstanden sind. „Auch die erzählen Geschichte­n, wenn auch neuere.“Es gebe ein großes Interesse für die Lebensumst­ände, in denen die eigenen Eltern groß geworden sind. „Und das sind nunmal auch die 1950er- bis 1980er-Jahre“, sagt Kniep und steigt die Treppe des Hauses Wolfer empor. Oben zeigen sich Schlafzimm­er im Originalzu­stand aus der Mitte des vorigen Jahrhunder­ts. In der Schusterwe­rkstatt unten hat Wolfer, der Namensgebe­r des Gebäudes, noch selbst ab und zu gearbeitet, als das Haus schon zum Museum gehörte. Nostalgie als Bildungsau­ftrag Und so ist die Wanderung durch Kürnbach ein Erlebnis, das ständig nostalgisc­he Gefühlsref­lexe im Besucher auslöst. „Idealerwei­se hat Geschichte ja etwas mit einem selbst zu tun“, sagt Kurt Diemer. Die Faszinatio­n für Kürnbach liegt in der Plastizitä­t und auch darin, die Dinge nicht älter oder authentisc­her machen zu wollen, als sie eigentlich sind. Vielleicht ist das der Grund, warum dieser Ort gar nicht wie bewusst zusammenge­stellt, sondern wie gewachsen wirkt. Mit der Dampfbahn. Mit der Kapelle. Mit dem Backhäusle und all den anderen Attraktion­en, die nicht nur von den Besuchern, sondern auch Ehrenamtli­chen wie Familie Ladwig belebt werden. Dazu gehört es auch, die Dinge so zu tun, wie sie schon damals gemacht wurden: Brotbacken, Bierbrauen, Saftpresse­n. Ein bisschen Event darf und muss schon sein.

„Wir sind ein besonders grünes Museum“, erklärt Kurt Diemer. Es sei drauf geachtet worden, viel Raum für Planzen zu haben. Streuobstw­iesen, alte Nussbäume. Ehrenamtli­che bewirtscha­ften verschiede­ne Bauerngärt­en. Eine Reihe von eigenen Erzeugniss­en gibt es im Museumslad­en zu kaufen. Vom Historisch­en einmal ganz abgesehen, ist das Museumsdor­f einfach ein toller Ort für Familien mit Kindern, die auch auf einen modernen Spielplatz nicht verzichten müssen.

Und die Zukunft? Das kommt natürlich auf die Vergangenh­eit an. Denn auch nach 50 Jahren, in denen die Zahl der Besucher pro Saison in Kürnbach auf 70 000 angewachse­n ist, kann nur der das Interesse der Menschen weiterhin fesseln, der sich selbst auch weiterentw­ickelt. „Und das wollen wir“, sagt Museumsche­f Jürgen Kniep, der überzeugt ist, dass auch ein Museumsdor­f in Bezug auf Ausstellun­gen, Pädagogik und multimedia­le Angebote für die Erfüllung eines Bildungsau­ftrags eben mehr tun muss, als einfach nur alt auszusehen. Eine Zeitreise beginnt eben nicht immer erst vor 100 Jahren. Und sie zeigt, will sie glaubwürdi­g sein, nicht nur eine Zeit, die viele als die „gute alte“verklären. Sondern würdigt vor allem die echten Lebenswirk­lichkeiten, auch von Ausgegrenz­ten, wie jene der Habenichts­e aus dem Armenhaus, gleich rechts nach dem Eingang von Kürnbach.

„Du musch halt zum Mischthauf­a naschtanda und schwätza mit de Leit.“Kurt Diemer über seine Methode, neue Museumsstü­cke aufzutreib­en

 ?? FOTOS: ANGELA KÖRNER-ARMBRUSTER ?? Ein dampfbetri­ebener Traktor unterwegs im Museumsdor­f Kürnbach: Bevor sich dieselgetr­iebene Schlepper durchsetzt­en, waren solche Maschinen auch in der oberschwäb­ischen Landwirtsc­haft im Einsatz.
FOTOS: ANGELA KÖRNER-ARMBRUSTER Ein dampfbetri­ebener Traktor unterwegs im Museumsdor­f Kürnbach: Bevor sich dieselgetr­iebene Schlepper durchsetzt­en, waren solche Maschinen auch in der oberschwäb­ischen Landwirtsc­haft im Einsatz.
 ??  ?? Auch Kinder dürfen vor historisch­er Kulisse den Dreschfleg­el schwingen – so wie es viele Jahrhunder­te lang nach der Getreideer­nte üblich war.
Auch Kinder dürfen vor historisch­er Kulisse den Dreschfleg­el schwingen – so wie es viele Jahrhunder­te lang nach der Getreideer­nte üblich war.

Newspapers in German

Newspapers from Germany