Wo Oberschwabens Zeitgeschichte noch dampft
Vor 50 Jahren eröffnete das Museumsdorf Kürnbach als erstes seiner Art in Baden-Württemberg – gealtert ist es seither kein bisschen
Das sagt sich immer so leicht, das mit dem „Eintauchen in die Geschichte“, das mit der „historischen Zeitreise“. Tatsächlich sind das allermeistens nur Sprüche von Werbemenschen, die mit solchen Formulierungen etwas Mückengroßes zum Elefanten aufpumpen wollen. Aber das hat ein Dr. Kurt Diemer nicht nötig, dass er solche Phrasen drischt, wenn es um seinen beruflichen Lebensmittelpunkt geht – das Oberschwäbische Museumsdorf Kürnbach. Denn wenn Diemer was von „Eintauchen in die Epochen der letzten 500 Jahre“erzählt, dann ist das kein Geschwafel, sondern treffende Bezeichnung dessen, was den aufmerksamen Besucher in Kürnbach unweit von Bad Schussenried erwartet: Vergangenheit, die beim Betreten schon des ersten Hauses im Freilichtmuseum zu einer zweiten Haut wird. Oft genug zur Gänsehaut.
Zum Beispiel im Armenhaus, wo plastisch zu greifen ist, wie die Leute im vorigen und vorletzten Jahrhundert gespalten waren zwischen dem, was ihre Pflicht als Christenmenschen war und der mehr oder weniger unverhohlenen Ablehnung gegenüber denen, die unter den Armen die Ärmsten waren. Menschen, die aus vielen Gründen nicht für sich selber sorgen konnten. Denen amtlicherseits „große Faulheit“attestiert wurde. Und die teilweise den Gemeinheiten der braven Bürger Oberschwabens ausgesetzt waren, weil manche es als ihr natürliches Recht ansahen, die Habenichtse im Gegenzug für ihre Mildtätigkeit schikanieren zu dürfen. „Natürlich nicht alle“, sagt Alexandra Taschner, die wissenschaftliche Mitarbeiterin des Museums. Und doch zeigt sich an der Geschichte von Katharina Ott, die von 1825 bis 1864 gelebt hat, genau das: Die wegen Landstreicherei und Prostitution geächtete Frau war nicht einmal im Armenhaus gern gesehen, genauso wenig ihre Kinder, sodass ihre Heimatgemeinde – Göffingen bei Riedlingen – ihrer Tochter Barbara schließlich die 100 Gulden bezahlte, damit die Frau nur ja nach Amerika auswanderte.
Aber nicht nur Menschen von zweifelhaftem Ruf wurden ins Armenhaus abgeschoben. Auch solche, die einfach anders waren. „Das, was man als klassischen Dorfdeppen kennt“, sagt Jürgen Kniep, Museumsdirektor und Archivar des Landkreises Biberach. Die kleine Ausstellung im Armenhaus des Museums dokumentiert auch solche Schicksale. Etwa jenes von Sepp, dem geistig behinderten Mann, der 1937 unter den Nazis eine Zwangssterilisation über sich ergehen lassen musste. Sepp lebte bis 1957 in dem Armenhaus. Er war nach dem Tod seiner Mutter und seines Bruders der letzte Verbliebene. Weil er sich allein dort nicht versorgen konnte, kam er von Amts wegen in ein Heim, wo er schließlich 1984 starb.
Das Schicksal von Sepp ist nur eines von Tausenden, die zwischen den 36 Gebäuden des Museumsdorfes herumspuken. Kurt Diemer kennt auch nicht jede einzelne dieser Geschichten, aber doch eine ganze Menge. Denn er ist der Mann, der über Jahrzehnte hinweg an der Idee dieses Museums auch als Leiter arbeitete. Keiner kennt es besser, niemand kann mehr darüber erzählen. Und wahrscheinlich gibt es auch keinen, der das unterhaltsamer oder schwäbischer könnte.
Die Geschichte des Museums beginnt 1968 mit dem Erwerb des Kürnbachhauses aus dem Jahr 1662 – übrigens das einzige Gebäude, das schon immer dort stand. Alle anderen kamen über die Jahre hinzu, sie wurden transloziert. Das bedeutet nichts anderes, als dass ein Haus verpflanzt wird. „Nach dem Prinzip Lego“, sagt Diemer, der von 1986 bis 2005 maßgeblich am Wachstum des Museums beteiligt war und es damit auch bis heute in vielerlei Hinsicht seine Handschrift trägt. „Ich konnte mich bei meiner Arbeit immer auf die Unterstützung von der Spitze des Landkreises verlassen“, betont Diemer und meint damit die ehemaligen Landräte Wilfried Steuer und Peter Schneider. Und auch der amtierende Landrat Heiko Schmid steht hinter Kürnbach, er teilt mit: „Wir sind davon überzeugt, dass unser Freilichtmuseum eine ungemein wichtige Aufgabe im Bereich der kulturellen Bildung in der Vergangenheit erfüllt hat und auch weiterhin erfüllen soll.“
Dass er überhaupt so eine eindrucksvolle Vielfalt verschiedener Lebenswirklichkeiten der Vergangenheit nach Kürnbach holen konnte, liegt aber an ihm selbst: „Du musch halt zum Mischthaufa naschtanda und schwätza mit de Leit“, erklärt der Historiker im Dialekt. Denn wer nicht die Sprache der Leute spreche, der könne auch nicht so ohne Weiteres mit deren Unterstützung rechnen. Und auf die komme es an, wenn es um die Sicherung alten Gemäuers, Kleidung, Werkzeug und Mobiliar geht, das es für die künftigen Generationen zu sichern gelte.
Bei einem Spaziergang durchs Museumsdorf mit Kurt Diemer – die Sonne scheint grell auf den mächtig groß gewachsenen Mann – ist kaum ein Fortkommen, weil der 76-Jährige zu jedem Stück Holz, zu jeder Tür, zu jedem Mauerstein eine Anekdote weiß. Beim Anblick eines kaminlosen Gebäudes sagt er: „Um 1800 hat es ein epochales Ereignis gegeben.“Und zwar hat man damals begonnen, Kamine als Rauchabzüge in Häuser zu verbauen.“Zuvor war der Rauch in den sogenannten schwarzen Küchen verblieben, hatte alles schwarz gefärbt – aber auch die Decke zum meist darüber liegenden Kornspeicher gegen Ungeziefer imprägniert. Baulich gewieft sei man immer gewesen – so habe der Kuhstall unter den Wohnräumen vielerorts als Fußbodenheizung fungiert.
Der heutige Museumsleiter, Jürgen Kniep, ist ebenfalls Historiker. Er sagt: „Zeitgeschichte ist gut, wenn sie noch dampft.“Etwa ein Dutzend Menschen arbeiten von April bis Oktober in Kürnbach. Organisieren Ausstellungen. Kümmern sich um die bestehenden Gebäude. Vermitteln lebendige Geschichte durch Museumspädagogik und ziehen ganz normale Besucher in ihren historischen Bann, aus denen nicht selten Ehrenamtliche werden. So wie Familie Ladwig mit ihren drei Kindern, die fast jedes Wochenende in Kürnbach sind, mit anpacken oder ganz einfach die Szenerie beleben. So wie jetzt gerade: Die drei Kinder stehen in einem Brunnen mit Handpumpe und tun das, was ihre Vorfahren schon vor 200 Jahren nicht anders gemacht haben – sich zur Abkühlung und zum Spaß an der Freude nassspritzen.
„Natürlich haben wir heute eine etwas andere Aufgabe wie die, die Herr Diemer damals wahrgenommen hat“, erklärt Jürgen Kniep. Es sei ein Irrtum zu denken, ein Museumsdorf, das Geschichte fassbar macht, sei irgendwann fertig. Zwar gebe es in Kürnbach Gebäude, die mehr als 500 Jahre alt seien. Aber auch solche, die erst im 20. Jahrhundert entstanden sind. „Auch die erzählen Geschichten, wenn auch neuere.“Es gebe ein großes Interesse für die Lebensumstände, in denen die eigenen Eltern groß geworden sind. „Und das sind nunmal auch die 1950er- bis 1980er-Jahre“, sagt Kniep und steigt die Treppe des Hauses Wolfer empor. Oben zeigen sich Schlafzimmer im Originalzustand aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts. In der Schusterwerkstatt unten hat Wolfer, der Namensgeber des Gebäudes, noch selbst ab und zu gearbeitet, als das Haus schon zum Museum gehörte. Nostalgie als Bildungsauftrag Und so ist die Wanderung durch Kürnbach ein Erlebnis, das ständig nostalgische Gefühlsreflexe im Besucher auslöst. „Idealerweise hat Geschichte ja etwas mit einem selbst zu tun“, sagt Kurt Diemer. Die Faszination für Kürnbach liegt in der Plastizität und auch darin, die Dinge nicht älter oder authentischer machen zu wollen, als sie eigentlich sind. Vielleicht ist das der Grund, warum dieser Ort gar nicht wie bewusst zusammengestellt, sondern wie gewachsen wirkt. Mit der Dampfbahn. Mit der Kapelle. Mit dem Backhäusle und all den anderen Attraktionen, die nicht nur von den Besuchern, sondern auch Ehrenamtlichen wie Familie Ladwig belebt werden. Dazu gehört es auch, die Dinge so zu tun, wie sie schon damals gemacht wurden: Brotbacken, Bierbrauen, Saftpressen. Ein bisschen Event darf und muss schon sein.
„Wir sind ein besonders grünes Museum“, erklärt Kurt Diemer. Es sei drauf geachtet worden, viel Raum für Planzen zu haben. Streuobstwiesen, alte Nussbäume. Ehrenamtliche bewirtschaften verschiedene Bauerngärten. Eine Reihe von eigenen Erzeugnissen gibt es im Museumsladen zu kaufen. Vom Historischen einmal ganz abgesehen, ist das Museumsdorf einfach ein toller Ort für Familien mit Kindern, die auch auf einen modernen Spielplatz nicht verzichten müssen.
Und die Zukunft? Das kommt natürlich auf die Vergangenheit an. Denn auch nach 50 Jahren, in denen die Zahl der Besucher pro Saison in Kürnbach auf 70 000 angewachsen ist, kann nur der das Interesse der Menschen weiterhin fesseln, der sich selbst auch weiterentwickelt. „Und das wollen wir“, sagt Museumschef Jürgen Kniep, der überzeugt ist, dass auch ein Museumsdorf in Bezug auf Ausstellungen, Pädagogik und multimediale Angebote für die Erfüllung eines Bildungsauftrags eben mehr tun muss, als einfach nur alt auszusehen. Eine Zeitreise beginnt eben nicht immer erst vor 100 Jahren. Und sie zeigt, will sie glaubwürdig sein, nicht nur eine Zeit, die viele als die „gute alte“verklären. Sondern würdigt vor allem die echten Lebenswirklichkeiten, auch von Ausgegrenzten, wie jene der Habenichtse aus dem Armenhaus, gleich rechts nach dem Eingang von Kürnbach.
„Du musch halt zum Mischthaufa naschtanda und schwätza mit de Leit.“Kurt Diemer über seine Methode, neue Museumsstücke aufzutreiben