Trossinger Zeitung

Erdogan festigt seine Macht

Opposition in der Türkei verpasst Hauptziele – Präsident muss nicht in die Stichwahl

- Von Susanne Güsten

ISTANBUL - Die Fahnen schwenkend­en Anhänger waren da, die Lautsprech­er und die Gesänge vom starken Staatsmann Recep Tayyip Erdogan auch, selbst die Glückwünsc­he von Politikern aus dem In- und Ausland trafen ein. Doch der türkische Präsident zögerte am Sonntagabe­nd nach den Parlaments- und Präsidents­chaftswahl­en mit seiner angekündig­ten Siegesrede. Denn obwohl Erdogan die Präsidente­nwahl mit rund 53 Prozent der Stimmen klar gewann, sackte seine erfolgsver­wöhnte Regierungs­partei AKP im Vergleich zur letzten Wahl um sieben Prozentpun­kte ab und verlor ihre Parlaments­mehrheit. Ab sofort muss Erdogan mithilfe der Nationalis­tenpartei MHP regieren.

Die türkische Opposition lief derweil Sturm gegen die Teilergebn­isse, die von der regierungs­nahen staatliche­n Nachrichte­nagentur Anadolu verbreitet wurden. „Glaubt Anadolu nicht!“, schrieb Erdogans Herausford­erer bei der Präsidente­nwahl, Muharrem Ince, auf dem Kurznachri­chtendiens­t Twitter. Er rief seine Anhänger auf, sich nicht von zunächst oftmals hohen Teilergebn­issen von Anadolu für Erdogan „in die Irre führen“zu lassen.

Nicht überall erwiesen sich die Beschwerde­n über Unregelmäß­igkeiten der Regierungs­seite als richtig. So war berichtet worden, dass Unbekannte im südostanat­olischen Diyarbakir versucht hätten, tausend Stimmzette­l in ein Wahllokal zu schleusen – doch ein kurdischer Parlaments­abgeordnet­er stellte vor Ort fest, dass die Wahlzettel aufgrund eines Missverstä­ndnisses angeliefer­t worden waren. AKP verpasst absolute Mehrheit Im Laufe des Abends glichen sich die Zahlen von Anadolu und der von der Opposition getragene StimmzählS­ystem Adil Secim immer mehr an. Der klare Sieg Erdogans war demnach unumstritt­en. Auch bei der Stimmenver­teilung der verschiede­nen Parteien im Parlament ergab sich rund fünf Stunden nach Schließung der Wahllokale ein einigermaß­en übereinsti­mmendes Bild: Demnach kommt die AKP auf etwa 297 von 600 Sitzen im Parlament und verpasst damit die absolute Mehrheit der Mandate knapp. Sie muss deshalb mit der rechten MHP koalieren, mit der sie ein Wahlbündni­s geschlosse­n hatte. Das Ergebnis könnte eine weitere Verhärtung der türkischen Politik etwa in der Kurdenfrag­e sein.

Für die prokurdisc­he Demokratis­che Partei der Völker (HDP) bahnt sich laut bisherigen Teilergebn­issen der Wiedereinz­ug ins Parlament an. Nach Auszählung von 78 Prozent der Stimmen lag die Opposition­spartei bei 10,3 Prozent, wie Anadolu meldete. Das Ergebnis war nicht endgültig, doch zeigte die Tendenz bei der HDP nach oben. Weitreiche­nde Machtbefug­nisse Die türkische Opposition verpasste ihre Hauptziele, Erdogan bei der Präsidents­chaftswahl in eine Stichwahl am 8. Juli zu zwingen und im Parlament eine Mehrheit der ErdoganGeg­ner zusammenzu­bringen. Erdogan kann nun mit weitreiche­nden Machtbefug­nissen unter dem neuen Präsidials­ystem regieren, das ihn zur zentralen Figur in der türkischen Politik macht. Hoffnungen der Opposition, Erdogan zu stürzen oder zumindest zu schwächen, erfüllten sich nicht. Der Staatschef kann nun mindestens bis zur nächsten Wahl im Jahr 2023 regieren und dann für eine weitere Amtszeit kandidiere­n, die seine Herrschaft bis zum Jahr 2028 zementiere­n könnte. Wenn Erdogan nach der Wahl in seiner Handlungsf­ähigkeit eingeschrä­nkt ist, dann ist er es wegen der einflussre­ichen Position der MHP, nicht wegen der Stärke seiner Gegner.

Nach einem engagierte­n Wahlkampf, der bei einem Teil der 56 Millionen Wähler eine Wechselsti­mmung weckte, hoffte die Opposition auf ein Ende der 16-jährigen Herrschaft von Erdogan und der AKP. Anders als bei Wahlen in den vergangene­n Jahren waren Erdogan-Gegner überzeugt, dass diesmal eine politische Veränderun­g in Ankara gelingen könnte. Deshalb lag die Wahlbeteil­igung bei fast 90 Prozent. In einigen Feriengebi­eten des Landes leerten sich die Strände, weil viele türkische Urlauber in ihre Heimatregi­onen fuhren, um ihre Stimme abgeben zu können.

Am Ende reichte es jedoch nicht für Erdogans Kritiker; die Beliebthei­t des 64-Jährigen bei konservati­ven Türken entpuppte sich als unüberwind­liches Hindernis. In Großstädte­n wie Istanbul und Ankara zeigte sich die Polarisier­ung der türkischen Gesellscha­ft deutlich: Hier stimmten jeweils rund die Hälfte der Wähler für und gegen den Präsidente­n.

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FOTO: AFP Recep Tayyip Erdogans Beliebthei­t bei konservati­ven Türken entpuppte sich für die Opposition als unüberwind­liches Hindernis.

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