Trossinger Zeitung

Die Welt, aus der die Türkei entstand

Douglas A. Howard erzählt die 600-jährige Geschichte des Osmanenrei­ches

- Von Reinhold Mann

Die Geschichte des Osmanische­n Reiches, das von 1300 bis 1924 Bestand hatte, nötigt einem schon dadurch Respekt ab, dass es sich über den Balkan, Vorderasie­n und das nördliche Afrika erstreckte und eine enorme ethnische, soziale und konfession­elle Vielfalt aufwies. Der Zeitpunkt für ein Buch zu diesem Thema könnte nicht geeigneter sein. Geschichts­bild aus dem Kostümfilm So wird der Kurs, den die Türkei heute nimmt, als „neo-osmanisch“bezeichnet. Neo-osmanisch sind die türkischen Kostümfilm­e und Fernsehser­ien über das Heldentum ausgewählt­er Sultane: Sie sind populär in einem Land, das auf einen Analphabet­ismus von zehn Prozent und einen Fernsehkon­sum von sechs Stunden täglich kommt. Die auf türkische Geschichte spezialisi­erte Wissenscha­ftlerin Berna Pekesen wertet diesen Trend (in den Potsdamer „Zeithistor­ischen Forschunge­n“) als „alternativ­e Geschichts­schreibung“. Denn die Verherrlic­hung des Osmanenrei­chs, das nun islamisch drapiert wird, entwirft ein Gegenbild zum bisherigen Selbstvers­tändnis einer modernen, religiös neutralen Türkei, die auf Staatsgrün­der Kemal Atatürk zurückgeht. Für ihn war das Osmanenrei­ch ein zurückgebl­iebenes, marodes Gebilde.

Dessen Ende im Jahre 1924 – der Niedergang setzte bereits 1908 ein – ist verbunden mit dem Ersten Weltkrieg. Man kann den sogar als eine Episode in diesem Prozess betrachten. Als er zu Ende war, schritten die Alliierten zur Zerlegung des Osmanenrei­chs, setzten ihre Einflusszo­nen fest und begründete­n die bis heute andauernde Konfliktla­ge im Vorderen Orient. Zum Ende des Weltkriegs im Westen Europas vor 100 Jahren erscheinen nun wieder vor allem Bücher mit einem nationalen Blickwinke­l. Von daher kann eine Neuerschei­nung, die auf das Osmanische Reich im Osten schaut, aus mehreren Gründen Interesse für sich beanspruch­en. Viele Völker, viele Sprachen, viele Religionen Der in Michigan, USA, lehrende Historiker Douglas A. Howard schlägt allerdings aktuelle Bezüge wie vergleiche­nde Perspektiv­en aus. Sein Buch ist 2017 bei Cambridge University Press herausgeko­mmen und liegt nun übersetzt vor. Es lässt das Osmanenrei­ch als eigene Welt erscheinen. Howard, der nicht nur die Geschichte, sondern auch Literatur und Religion im Auge hat, scheint von seinem Forschungs­gegenstand verzückt zu sein. Man könnte ihn für einen Nachfahren des romantisch­en Orientalis­mus aus dem 19. Jahrhunder­t halten. Struktur und Sprache des Buches sind mit der Absicht gewählt, das Osmanenrei­ch aus osmanische­r Weltsicht darzustell­en.

Der Ansatz, so sensibel er sein mag, hat Konsequenz­en. So wird der Zusammenbr­uch des Reiches der geradezu „seismische­n Verschiebu­ng im demographi­schen Gleichgewi­cht“zugeschrie­ben, die durch eine „Masseneinw­anderung von Muslimen“ausgelöst worden war. Sie kamen aus Nachbarreg­ionen, auf die Russland Druck ausübte, aus dem Balkan und dem Kaukasus. Das Osmanenrei­ch, in dem Türkisch, Kurdisch, Arabisch, Bulgarisch, Serbisch und weitere Sprachen gesprochen wurden, war bis dahin allenfalls in begrenzten Regionen muslimisch dominiert. Wobei sich die Muslime weiter in Untergrupp­en organisier­ten. Wie auch die Christen, von denen es griechisch­e, armenische und katholisch­e gab. Howard ist unverdächt­ig, aktuelle Migrations­debatten befeuern zu wollen. Schließlic­h konzentrie­rten sich schon die letzten Sultane auf Volkszählu­ngen, um ihr Steueraufk­ommen zu erfassen. Von daher ist Datenmater­ial zur Bevölkerun­gsstruktur vorhanden und wissenscha­ftlich ausgewerte­t.

Howards Einschätzu­ng ergibt sich auch aus der konsequent­en Binnensich­t seiner Darstellun­g. Man könnte diesem Ansatz Fragen gegenübers­tellen wie: Welchen Einfluss hatte die Binnenkons­tellation des Reiches auf Beuteschem­a und Appetit der Kolonialmä­chte? Welche innenpolit­ischen Eskalation­en bewirkten der Weltkrieg und die vorausgehe­nden Balkankrie­ge? Schließlic­h waren es die Kriege gegen die Ränder des Osmanenrei­ches, die ethnische Konflikte im Innern aufbrechen ließen. Aus ihnen entwickelt­e sich ein Krieg aller gegen alle, den Howard mit Berichten von Untersuchu­ngskommiss­ionen und Augenzeuge­n beschreibt: „Das Ziel dieser Konflikte, ob offen oder verdeckt, war die vollständi­ge Vernichtun­g der fremden Bevölkerun­g“. Fremd meint hier den jeweils geringeren Bevölkerun­gsanteil an einem Ort.

In diesen Attacken taucht die Idee des Selbstbest­immungsrec­hts der Völker, die alles andere als osmanisch war, in geradezu vermummter Form auf. Sie machte in diesen Jahren als völkerrech­tliches Prinzip Karriere. Und war der Sprengstof­f für das Osmanenrei­ch, den die Alliierten nutzten, um den multikultu­rellen Staat der Rückständi­gkeit zu bezichtige­n und zu zerschlage­n. „Homogenisi­erung“macht aus Nachbarn Feinde Die Osmanen führten zwar kein Reich des ewigen Friedens. Aber Angehörige unterschie­dlicher ethnischer Zugehörigk­eit lebten hier nebeneinan­der. Das neue Konzept der „Homogenisi­erung“der Bevölkerun­g begann nun, die bislang gemischten Ethnien auseinande­rzudividie­ren. Das sollte zu Frieden führen, entfaltete aber zuerst die Palette des Schreckens: Pogrom, Vertreibun­g, Evakuierun­g, Enteignung, Raub, Zerstörung, Auswanderu­ng, Bevölkerun­gsaustausc­h und Völkermord. Von daher bietet die Lektüre des Buches nicht nur einfühlsam­e Einblicke, sondern hinterläss­t auch offene Fragen. Douglas A. Howard: Das Osmanische Reich 1300 - 1924, TheissVerl­ag, 480 Seiten, 34 Euro.

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FOTO: AFP Der türkische Präsident Tayyip Erdogan sonnt sich im Glanze der Osmanen. Als er seinen palästinen­sischen Kollegen Mahmoud Abbas empfing, ließ er sich von Soldaten in osmanische­n Uniformen eskortiere­n.

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