Gewürzgurken am Zwiebelturm
Baden-Baden gilt als einer der russischsten Orte in Deutschland und hat genügend Winkel, wohin russische Fußballmuffel flüchten können
BADEN-BADEN (dpa) - Natalia Lamprecht setzt die Sonnenbrille ab und schaut über die Blumenbeete des Theaters hinweg. „Das ist die Stadt, in der ich bleiben will. Das wusste ich sofort“, erzählt die gebürtige Russin. Mit 19 Jahren kam die Übersetzerin nach Deutschland. Berlin war nicht ihr Geschmack. Aus Baden-Baden hat es Lamprecht bis heute nicht weggezogen. Ihre Ankunft ist mittlerweile fast 20 Jahre her.
Im Supermarkt am Fuße des goldenen Zwiebelturms der russischorthodoxen Kirche gibt es Gewürzgurken zum Einlegen für 1,49 Euro das Kilo. Zwischen Schaumzuckertörtchen und bunten Bonbons in Zellophanfolie hängen die Zeiten für die Flüge nach Moskau, die Nummer des russischen Generalkonsulats und ein Moped-Verkaufsangebot in kyrillischen Buchstaben. Hier trifft sich, wer die gleiche Sprache spricht.
„Wenn ich mit meinem Leseclub im Café Russisch rede, reagiert man hier ganz anders auf die Sprache als zum Beispiel in Karlsruhe“, sagt Lamprecht. Russisch ist Normalität, von der Wohnungsanzeige bis ins Gasthaus Löwenbrau. An vielen Geschäften steht auf Russisch, dass das Verkaufspersonal auch die Sprache spreche.
Wie Lamprecht geht es vielen ihrer Landsleute. „Jedes russische Kind hat in der Schule schon von Baden-Baden gehört“, sagt die Slawistin Renate Effern – dank Literaten wie Iwan Turgenjew und Fjodor Dostojewski, die in Baden-Baden Romane verfassten. Genannt wird auch oft die russisch-badische Zarin Elisabeth, die das Städtchen im Schwarzwald schon im 19. Jahrhundert als „einen der schönsten Orte der Welt“beschrieb.
Russen und Deutsche leben in dem badischen Kurort seit Jahrhunderten Seite an Seite. „Das Phänomen ist seit jeher das gleiche: Man bleibt unter sich. Egal, ob unter Touristen, Russlanddeutschen oder in der jüdisch-russischen Gemeinde“, sagt Effern, die sich manchmal mehr Austausch wünschen würde. Sie ist Vorsitzende der Turgenev (Turgenjew) Gesellschaft, die sich in Baden-Baden für russische Kultur einsetzt.
Die Politik des russischen Präsidenten Wladimir Putin spaltet auch hier in Baden-Württemberg die Gemüter. Doch Lamprecht meint: „Wenn man so weit weg ist, kann man das entspannter beobachten.“Bei der letzten Präsidentenwahl in Russland hätte sie als Inhaberin beider Staatsbürgerschaften wählen können, direkt im Hotel Atlantic. Getan hat sie es nicht. „Ich habe kein Recht, über ihn zu urteilen. Ich habe ihn nicht selbst erlebt.“
In der politisch aufgeheizten Zeit rund um die Annexion der laut Völkerrecht zur Ukraine gehörenden Halbinsel Krim vor vier Jahren war die Reiselust der Russen spürbar gedämpft. Grund dürften auch die großen wirtschaftlichen Probleme einschließlich der Sanktionen des Westens gewesen sein – und der schwache Ölpreis sowie die Rubelschwäche. Die Buchungen ließen laut der Tourismusbehörde Baden-Baden damals spürbar nach. Seit 2016 steigt die Zahl der russischen Gäste wieder.
Dass unter anderem in Moskau, rund 2500 Kilometer östlich, in diesen Tagen, ein sportliches Großereignis abläuft, ist im Kurort kaum Thema. Obwohl ARD und ZDF erstmals gemeinsam die Berichterstattung über eine WM am Stammsitz des Südwestrundfunks in Baden-Baden aus einem Nationalen Sendezentrum steuern, rechnet niemand mit großem Trubel abseits des üblichen Public Viewings. „Zu uns kommen höchstens die Russen, die vor der Weltmeisterschaft flüchten wollen“, hieß es in der Touristen-Information im Vorfeld der WM.
Das liegt natürlich auch an der Klientel. Baden-Baden hat im Durchschnitt die ältesten Bewohner Baden-Württembergs, die meisten Millionäre noch dazu. Die Wege sind kurz, das Festspielhaus spielt oft russische Klassiker. Zwischen Spielbank und Thermalbad ist Skateboard fahren verboten. „In meiner Heimat, die im nördlichen Kaukasus ist, gibt es viele solcher Kurorte“, sagt Lamprecht.
Baden-Baden nennt sie nicht Heimat, sondern Wahlheimat. Ein Wort, das der russischen Sprache fehle, obwohl es gerade in Baden-Baden viele Muttersprachler gut gebrauchen könnten.
„Jedes russische Kind hat in der Schule schon von Baden-Baden gehört.“Renate Effern, Slawistin