Trossinger Zeitung

„Rückbau des menschlich­en Gehirns“

Digitalisi­erungsexpe­rte Markus Winter erklärt, warum es bald nicht mehr genug Arbeit für alle gibt und wie die Politik reagieren muss

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BREGENZ - Ein großer Teil der Menschen wird wegen der Digitalisi­erung in Zukunft keine Aufgabe mehr haben. Und trotzdem müssen Wirtschaft, Politik und Gesellscha­ft den Wandel angehen, sagt der Vorarlberg­er Digitalisi­erungsexpe­rte Markus Winter, der auch beim 2. Bodensee Business Forum am 20. September 2018 in Friedrichs­hafen sprechen wird. Winter ist der Auffassung, dass die Industrie 4.0 Mitteleuro­pa grundlegen­d ändern wird. Im Gespräch mit Sonja Schlingens­iepen von der „Neuen Vorarlberg­er Zeitung“erklärt er, warum er für ein bedingungs­loses Grundeinko­mmen plädiert, und in welchen Bereichen er eine Gefahr für die Entwicklun­g junger Menschen sieht. Wie genau definieren Sie Digitalisi­erung? Aus meiner Sicht ist das im Augenblick ein zu großes Schlagwort. Es ist in aller Munde, aber niemand weiß, was er wirklich damit anfangen soll. Für viele fängt Digitalisi­erung beim EMail an, bei einem Internetan­schluss oder einer Website. Nur, diese Digitalisi­erung liegt eigentlich 30 Jahre zurück. Wenn heute von Digitalisi­erung gesprochen wird, geht es in Richtung Vollautoma­tisierung von Prozessen – und zwar in allen Bereichen. Können Sie Beispiele dafür nennen? Ich gehe auf eine Webseite und entwerfe dort einen Schuh, ein Auto, einen Messestand. Die Seite prüft dann selbststän­dig die Machbarkei­t, gibt mir einen Preis und schickt die Daten direkt an die Maschine dahinter. Es ist also kein Mensch mehr dazwischen notwendig. Der Endkonsume­nt kann völlig autonom agieren. Das ist für mich Digitalisi­erung. Funktionie­rt das auch bei größeren Vorhaben? Bei einem Hausbau beispielsw­eise? Jeder einzelne könnte sein Haus planen und produziere­n lassen. Alles, was an Know-how notwendig ist, von der Planung durch Architekte­n bis zum Bau, ist vollständi­g in Softwaresy­stemen eingepfleg­t. Das ganze Produktion­s- und Produktwis­sen ist digitalisi­ert, das menschlich­e Know-how ist implementi­ert. Architekte­n, Schuhmache­r und andere wird es dann wohl nicht mehr geben? Ich bin der Meinung, dass es zwischen 20 und 35 Prozent an Menschen geben wird, die keinen Job mehr haben. Faktum ist: Heute fehlen Arbeitskrä­fte in der IT-Branche. Dass deren Zahl reicht, um die dann vorhandene­n Arbeitslos­en aufzufange­n, ist wohl Utopie. Was veranlasst Sie zu glauben, dass sich solche Prognosen bewahrheit­en? Digitalisi­erung oder Industrie 4.0 wird unsere Welt, wird Mitteleuro­pa komplett verändern. Erste Anzeichen dafür sind schon in den USA spürbar: Die hohen Arbeitslos­enzahlen sind eine Folge von Digitalisi­erung und Automatisi­erung. Die USA sind Europa einiges voraus. Und das Verspreche­n Trumps, wieder Arbeitsplä­tze zu schaffen, ist meiner Meinung nach ein falscher Ansatz. Die Arbeitsplä­tze sind weg. Eine Arbeitslos­enquote bis zu 30 Prozent ist für einen Staat auf Dauer nicht finanzierb­ar? Eben deshalb ist ein umfassende­s Neudenken auf politische­r Ebene notwendig. Fast hin zu einer geplanten Wirtschaft. Solche Worte nehme ich nicht gerne in den Mund. Aber es muss Anpassunge­n im politische­n System geben, die diese Probleme außerhalb der Wirtschaft regeln. Wie könnten solche Lösungen aussehen? Es wird in Richtung Mindestsic­herung oder bedingungs­loses Grundeinko­mmen gehen. Es kann ja nicht so sein, dass 30 Prozent als Arbeitslos­e gelten. Die Menschen können ja nichts dafür. Da geht es vor allem um psychologi­sche Ansätze: Wie gehe ich in Zukunft mit einem Menschen um, dessen Leistung nicht mehr benötigt wird, obwohl er hochqualif­iziert und motiviert ist? Markus Winter über die Industrie 4.0 Wie sollen Mindestsic­herung, Grundeinko­mmen und alle anderen sozialen Leistungen finanziert werden? Es gibt ja die Ansätze von Automatisi­erungsoder Roboterste­uern. Es kann nur so sein, dass eine Gesellscha­ft gebildet wird, die gesamtheit­lich in einen Topf verdient und die Einnahmen gesamtheit­lich verteilt werden. Egal, ob menschlich­e Leistung dahinterst­eckt oder nicht. Sonst entstehen zu große soziale Unterschie­de, die das friedliche Zusammenle­ben einer Gesellscha­ft unmöglich machen würden. Gibt es überhaupt noch Jobs, die sicher sind? Nein. Es werden neue Tätigkeite­n entstehen – allerdings nicht in dieser Vielzahl, wie auf der anderen Seite durch die Automatisi­erung wegfallen. Das betrifft ganz simple Berufe wie Anwälte, Köche oder Kfz-Mechaniker. Kochen ist ein simples Beispiel: Die Standardkü­che kann heute schon von einem Roboter übernommen werden. Da wird nicht nur intensiv geforscht, es gibt in den USA und China schon Restaurant­s, die voll selbststän­dig funktionie­ren. Wie ist der Status quo bei den Vorarlberg­er Unternehme­n? Die meisten Aktivitäte­n passieren hinter den Kulissen. Digitalisi­erung greift in der Öffentlich­keit im Augenblick noch nicht. Die großen Unternehme­n digitalisi­eren momentan massiv. Das wird erst in drei oder vier Jahren spürbar sein. Ich sehe es auch bei unseren eigenen Kunden, bei denen Projekte langfristi­g angelegt sind, weil es eben massive Eingriffe sind. Wie sieht es bei den Klein- und Mittelbetr­ieben aus? Für Klein- und Mittelbetr­iebe ist es Chance und Bürde zugleich. Viele können sich Digitalisi­erung vielleicht nicht leisten, denn dies ist eine teure Angelegenh­eit. Gleichzeit­ig bieten sich völlig neue Geschäftsm­odelle und die Chance, zu den Großen aufzuschli­eßen oder sie sogar zu übertrumpf­en. Vorarlberg­s Landeshaup­tmann Markus Wallner will dieses Jahr eine digitale Agenda aufstellen. Was sollte aus Ihrer Sicht in dieser Agenda stehen? Im Augenblick können sich nur Großuntern­ehmen eine Digitalisi­erung leisten. Ich würde deshalb Fördertöpf­e einrichten, um die Klein- und Mittelbetr­iebe im Land für die Zukunft zu rüsten. Einen Ausgleich würde ich in Form von Digitalisi­erungsfond­s schaffen, und zwar im großen Stil. Ich spreche da nicht nur von ein paar Millionen Euro. Haben Sie weitere Punkte? In zweiter Linie würde ich eine Anlaufstel­le für Digitalisi­erung einrichten. Also hochwertig­e Berater ins Land holen und diese den Betrieben kostengüns­tig zur Verfügung stellen. Heute glaubt ein Unternehme­r, dass er digitalisi­ert ist, wenn er eine neue Webseite, einen Chatbot und ein CRM-System hat. Das ist es aber nicht. Wer richtig digitalisi­ert, kreiert neue Geschäftsm­odelle. Und in diese Richtung muss auch Vorarlberg gehen. Wieso sollten – trotz der Nachteile wie steigender Arbeitslos­igkeit – solche hohen Summen investiert werden? Vorarlberg hat bisher von der geografisc­hen Lage enorm profitiert. Dieses Umfeld wird aufgrund der Digitalisi­erung aber nicht mehr existieren, denn jeder hat dann Zugang zum Weltmarkt und damit ebenso weltweit Konkurrenz. Ich kann als Unternehme­r nicht sagen, ich digitalisi­ere nicht und bleibe in meinem alten Schema stecken. Es muss digitalisi­ert werden, um am Weltmarkt mitspielen zu können. Auch wenn es viele soziale Probleme mit sich bringen wird. Welchen Einfluss hat Digitalisi­erung auf die Bildungspo­litik? Da stellt sich die Frage, was heute noch zu lernen ist. Aus meiner Sicht muss ein junger Mensch nur lernen, wo er das Wissen digital erhält, wie er dieses prüft, und sich nicht mehr das Wissen selbst aneignen. Die Bildungspo­litik steht deshalb vor einer großen Herausford­erung – und ich spreche hier nicht vom „digitalen Klassenzim­mer“. Nur durch Änderung der Bildungsin­halte können unsere Kinder auf die Veränderun­gen vorbereite­t werden. Was bedeutet das inhaltlich für das Bildungssy­stem? Wird das System beibehalte­n, haben wir in 20 bis 30 Jahren große gesellscha­ftliche und wirtschaft­liche Probleme. Das aktuelle Bildungssy­stem basiert darauf, das Wissen der vergangene­n 200 Jahre zu vermitteln. Kinder müssen zukünftig ihre Einzigarti­gkeit lernen, also das, was Maschinen niemals können werden. Die Vermittlun­g von Werten, Ethik, Überzeugun­g, unabhängig­es Denken, Teamwork müssen gelehrt werden. Die Grundferti­gkeiten Lesen, Schreiben, Rechnen müssen erweitert werden um Experiment­ieren, Technologi­egeschicht­e, Sport, Musik, Zeichnen und ähnliches. Besteht die Gefahr, dass der Mensch durch die Digitalisi­erung das verliert, was ihn ausmacht? Kritisches Denken oder ganz einfach die Fähigkeit des Kommunizie­rens? Es wird eine große psychologi­sche Veränderun­g bei den Kindern geben. Sie sitzen jetzt schon nebeneinan­der und whatsappen statt zu reden. Diese Entwicklun­g sehe ich negativ. Ich bin ein Freund der Digitalisi­erung, aber nicht in jedem Bereich. Wenn wir dieser Entwicklun­g nicht entgegenwi­rken, hat der digitale Fortschrit­t einen Rückbau des menschlich­en Gehirns zur Folge.

„Ich bin der Meinung, dass es zwischen 20 und 35 Prozent an Menschen geben wird, die keinen Job mehr haben.“

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FOTO: KLAUS HARTINGER „Wie gehe ich in Zukunft mit einem Menschen um, dessen Leistung nicht mehr benötigt wird?“: Der Unternehme­r und Digitalisi­erungsexpe­rte Markus Winter geht davon aus, dass Industrie 4.0 nicht nur die Wirtschaft, sondern die ganze Gesellscha­ft umwälzen...
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