Ab jetzt ist WM!
Toni Kroos erlöst Deutschland in der 95. Minute – und „jetzt durchs Turnier reiten“
SOTSCHI - Diese eine Sekunde in der 95. Minute. Die Nationalelf droht zu kentern, funkt SOS. Drei Mal kurz, drei Mal lang, drei Mal kurz.
Foul an Timo Werner, Freistoß. Die letzte Chance auf das Siegtor gegen Schweden. Toni Kroos steht auf der Kommandobrücke, Marco Reus assistiert. Mach’ ihn, er macht ihn: Kroos tippt den Ball an, ein Mal kurz. Reus stoppt. Kroos schlenzt mit rechts ins lange Eck. Ins Netz.
Ins Glück. Ein Schuss, ein Tor, ein Rausch. 2:1 durch das späteste Tor, das eine deutsche Mannschaft je in der regulären Spielzeit eines Turnierspiels erzielt hat.
Schlusspfiff. Kroos sinkt auf die Knie, trommelt mit beiden Fäusten auf den Rasen. Drei Mal kurz. Geschafft. Verdammt noch mal. Raus mit der Wut, mit der Anspannung, mit der Erleichterung. Das 0:1 zum Auftakt gegen Mexiko hatte Tage lang Nerven und Körner gekostet, steckte in den Gliedern, vervielfachte den Druck.
Und doch: Geschafft. „Jetzt sind wir im Turnier“, sprach Thomas Müller, immer noch ergriffen von den „Schmetterlingen“, die in ihm flogen. Nach zwei Spielen und fünf Minuten Nachspielzeit hat für Deutschland, dem amtierenden Weltmeister, dieses Turnier begonnnen. Deutschland lebt, ’ne Turniermannschaft halt. Die WM kann beginnen, jetzt geht’s Kroos.
Es war eine 95-minütige Reise, als kickte die deutsche Mannschaft nicht im Fischt-Stadion, sondern säße in der Achterbahn im nahegelegenen Freizeitpark von Sotschi. Eine Nervenschlacht bei subtropischer Luftfeuchtigkeit am Schwarzen Meer. Wieder ein Rückstand trotz forschem, trotzigen Beginn, der angekündigten Reaktion. 0:1 durch Toivonens Treffer (32.). Nach einem Kroos-Fehler. Fußball-Nobelpreis für Kroos „Natürlich geht das erste Tor auf meine Kappe, wenn du im Spiel 400 Pässe spielst, dann kommen auch mal zwei nicht an“, meinte er hinterher. Deutschland war ausgeschieden – für knapp 20 Minuten.
Bundestrainer Joachim Löw wäre alles um die Ohren geflogen. Seine taktischen und personellen Umstellungen, das Risiko und zugleich den Mut, die Weltmeister und zuvor unantastbaren Mesut Özil und Sami Khedira aus der Startelf zu nehmen. Risiko. Alles auf eine Karte, auf den Umschwung, die Turnierwende.
In der Halbzeitpause wurde Löw laut, appellierte mit Nachdruck an sein Team, „dass sie auf jeden Fall ruhig bleiben“sollen, „nicht die Nerven verlieren dürfen“. Leicht gesagt. Reus, neu in der Mannschaft für Özil, traf nach Werner-Zuspiel und einer Ballberührung von Mario Gomez, gerade eingewechselt, zum Ausgleich (48.). Doch die Aufbruchstimmung verpuffte spätestens mit der Gelb-Roten Karte von Jérôme Boateng. Unterzahl für mehr als zehn Minuten. Schweden witterte die Chance auf den Todesstoß. Deutschland taumelte, offenbarte alte Schwächen, war am Abgrund, ein Tor von der Katastrophe entfernt. Bis King Kroos kam und seinen Zauberfreistoß auspackte – wenn es den Fußball-Nobelpreis gäbe, der 28-Jährige von Real Madrid sollte ihn erhalten: Für besondere Verdienste um die Fußballnation.
Was diese Infusion der Emotionen durch das späte 2:1 nun auslöst? „Das kann ein entscheidender Wendepunkt sein“, meinte Müller. Muss es – betonte Werner. „Wenn wir die Steilvorlage nicht annehmen und damit durchs Turnier reiten“, sagte der Stürmer, „dann hat dieses ganze Spiel nichts gebracht.“Kapitän Manuel Neuer meinte: „Wie wir am Schluss zusammen gefeiert haben, das war ein erster, wichtiger Schritt in die richtige Richtung.“
Nach dieser einen Sekunde, dem Krooskunstschuss von Sotschi.
Neuer – Kimmich, Boateng, Rüdiger, Hector (87. Brandt) – Rudy (31. Gündogan), Kroos – Müller, Reus, Draxler (46. Gomez) – Werner. – Olsen – Lustig, Lindelöf, Granqvist, Augustinsson – Claesson (74. Durmaz), Larsson, Ekdal, Forsberg – Toivonen (78. Guidetti), Berg (90. Thelin). – 0:1 Toivonen (32.), 1:1 Reus (48.), 2:1 Kroos (90.+5). – 44 287. –
Boateng (82./ wiederholtes Foulspiel).