Trossinger Zeitung

Erdogan-Sieg löst Integratio­nsdebatte aus

Im Südwesten hat die Mehrheit der Türken den Präsidente­n gewählt – Das wirft Fragen auf

- Von Birgit Letsche und Anna Kratky

RAVENSBURG - Deutschlan­d ist für den türkischen Staatspräs­identen Recep Tayyip Erdogan bei Wahlen schon seit Jahren eine sichere Bank. Diesmal lief es aber besonders gut für ihn. 64,78 Prozent der in Deutschlan­d lebenden Türken votierten nach Angaben der staatliche­n Nachrichte­nagentur Anadolu für ihn – im Vergleich zu 52,6 Prozent insgesamt. Seinen stärksten Mitbewerbe­r Muharrem Ince von der linksliber­alen Opposition­spartei CHP (21,9 Prozent zu 30,6 Prozent insgesamt) distanzier­te er weitaus deutlicher als zu Hause in der Türkei.

„Das war abzusehen“, kommentier­t Fuat Karaismail­oglu (Foto: oh) trocken. Der 41-Jährige ist der Vorsitzend­e des Türkischen Kultur- und Bildungsve­reins von Bad Wurzach, das aufgrund der Glasindust­rie eine sehr große türkische Gemeinde hat. Allein die geringe Wahlbeteil­igung hat ihn überrascht – nur rund die Hälfte seiner 1,44 Millionen wahlberech­tigten Landsleute haben ihre Stimme überhaupt abgegeben. Die Gründe für die Erdogan-Begeisteru­ng liegen für den gelernten Versicheru­ngsfachman­n auf der Hand: Protest. „Das ist das Resultat einer vernachläs­sigten Integratio­nspolitik. Erdogan spricht aus, was die Deutschtür­ken denken.“Von ihm fühlten sie sich ernst genommen und verstanden, was man von den deutschen Politikern nicht sagen könne.

Zumindest mit dieser Einschätzu­ng liegt Karaismail­oglu, der seinen 15-jährigen Sohn auf das christlich geprägte Salvator-Kolleg in Bad Wurzach schickt und seit 15 Jahren ehrenamtli­cher Bewährungs­helfer beim Landgerich­t Ravensburg ist, auf gleicher Linie mit Cem Özdemir, dem früheren Grünen-Chef. „Man muss feststelle­n, dass Erdogan immer noch eine starke Machtbasis hat, auch unter den hier lebenden Deutsch-Türken“, sagt der Bundestags­abgeordnet­e. „Was wir nun brauchen, ist eine gute Integratio­nspolitik, die sich gegen Diskrimini­erung stellt, das Bildungsve­rsprechen erneuert und Chancenger­echtigkeit durchsetzt.“Fuat Karaismail­oglu formuliert das direkter. „Die deutschen Politiker sollten mehr mit uns reden als über uns. Von denen lässt sich doch kaum jemand bei unseren Veranstalt­ungen blicken. Wir wurden viel zu lange vernachläs­sigt.“

In Stuttgart hat Erdogan 68,8 Prozent, in Karlsruhe 63,5 und in München 65,5 Prozent der Stimmen bekommen. Der Südwesten liegt damit im bundesweit­en Durchschni­tt – aber noch weit unter dem Ruhrgebiet. In Düsseldorf schaffte der langjährig­e Staatspräs­ident von der islamisch-konservati­ven Regierungs­partei AKP 70 Prozent und in Essen sogar 76,9 Prozent. Gökay Sofuoglu, Vorsitzend­er der Türkischen Gemeinde in Baden-Württember­g und Deutschlan­d, zeigte sich auf Nachfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“überrascht. „Das Ergebnis in Deutschlan­d hätte ich so nicht erwartet. Die AKP hatte eine stärkere Mobilisier­ungskraft als die Opposition­ellen“, sagt er. Heimlich habe er darauf gehofft, dass es zu einem zweiten Wahlgang komme.

Auf Unverständ­nis stößt der Wahlausgan­g auch beim Landesvors­itzenden der Alevitisch­en Gemeinde. „Das ist für mich sehr paradox. Das verstehe ich nicht. Wir leben hier in einem demokratis­chen Land. Wie man dann für so ein System stimmen kann, verstehe ich nicht“, sagt Ergin Özcan. Gleich nach der Wahl habe er von vielen anderen Vorsitzend­en Nachrichte­n erhalten. Viele seien sehr enttäuscht. Die Hoffnung sei groß gewesen, dass sich etwas ändert. „Aber genau darum müssen wir jetzt weitermach­en.“

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FOTO: DPA In Deutschlan­d lebende Türken feiern den Wahlsieg von Recep Tayyip Erdogan mit zahlreiche­n Autokorsos durch die Städte.

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