Mein Freund, der Fluss
Naturschutz rentiert sich – Wie die Renaturierung der Elbe wieder Leben in eine abgehängte Region in der Mitte Deutschlands bringt
Es war ein Zeichen des Fortschritts, Flüsse zu zerstören. Heute ist es umgekehrt. BUND-Chef Hubert Weiger Ick gloobe, dat lööft. Johnny Buck, Betreiber einer alten Mühle
Auf dem Elbdeich der 365Seelen-Gemeinde Wahrenberg lässt sich nach einer Radtour gut verschnaufen. „Anne Elbe“steht auf dem Schild vor dem alten Fährmeisterhäuschen, und darunter, was das einzige Café weit und breit zu bieten hat. Alles ist bio und vegetarisch, teils selbst auf dem Resthof nebenan erzeugt. Damit wirbt Anne Zinke aber nicht. „Das wird von den regionalen Gästen nicht als Vorzug angesehen“, erklärt sie. Wahrenberg liegt in Sachsen-Anhalt, wo ein zu kleines Schnitzel schon als vegetarische Kost gilt.
Die Gruppe, die sich hier für Bildungsund Kulturangebote zusammengefunden hat, sieht sich eher mit den Aussteigern vergangener Jahrzehnte im benachbarten Wendland verbunden. „Wir sind Raumpioniere“, sagt Norbert Krebber zur Expansion der Szene auf das Terrain der ehemaligen DDR. Der Rheinländer ist vor 19 Jahren an die Elbe in das Projekt eingestiegen und hofft auf eine Entwicklung des Örtchens, wenn schnelles Internet Stadtflüchtlingen erst einmal die Arbeit im Homeoffice am Fluss ermöglicht. Einer ist schon dageblieben. Ein Produzent von Hörbüchern. Die Ruhe dazu findet er hier bestimmt.
Es gibt wohl nur wenige ähnlich einsame Landstriche in Deutschland wie das Vierländereck an der Elbe. Hier stoßen Brandenburg, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern aneinander. Die Elbe bildete hier lange die deutsch-deutsche Grenze. Beide Seiten haben sich deshalb nicht um die Region gekümmert, etwa um die Schifffahrt. Die DDR siedelte rund 10 000 Bewohner in grenznahen Orten sogar zwangsweise um. So konnte sich hier die Natur ziemlich ungestört ausbreiten. Vom Kanu aus sieht man lange Zeit weder Mensch noch Maschine an Land. Nur vereinzelte Radler winken vom Elberadweg herüber.
Ein Seeadler nähert sich der Wasseroberfläche, fährt seine Krallen aus und stürzt sich hinab auf den Fluss. Den Fisch holt er zwar heraus, doch entgleitet ihm der Lohn der Arbeit gleich wieder. Pech gehabt, ab zum nächsten Versuch.
Große Kähne kommen kaum vorbei, obwohl darauf lange die Hoffnungen einiger Kommunen ruhten. Wittenberge etwa investierte viel Geld in neue Hafenanlagen. Die Schiffahrt sollte Einkommen bringen. Doch diese Rechnung ging nach Ansicht des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND) nicht auf. „Wirtschaft braucht Verlässlichkeit und die kann die Elbe nicht leisten“, erläutert Meike Kleinwächter, die das Auenzentrum des Verbands leitet. Mittlerweile sei der Wasserstand so oft so niedrig, dass die Berufsschiffer keine Planungssicherheit mehr haben. Sie suchen sich andere Wege. So bleiben Flora und Fauna im Landstrich weitgehend unter sich. Doch davon alleine kann man nicht leben. Das hat auch die Stadtverwaltung von Lenzen auf der brandenburgischen Elbseite zu spüren bekommen. Fast jeder vierte Einwohner hat den Ort verlassen. 4200 Bewohner zählt das Städtchen heute noch. Doch es gibt einen kleinen Hoffnungsschimmer durch die Projekte des BUND. Die Umweltschützer haben die örtliche Burg in den 1990er-Jahren geschenkt bekommen und daraus ein Hotel nebst wissenschaftlichem Zentrum und Ausstellungsgelände gemacht. Im Burgpark können die Gäste Erkundungsgänge ins Vogelreich unternehmen, sich beispielsweise die nächtlichen Tierstimmen erklären lassen. Der Pirol singt, Zwergfledermäuse sausen übers Wasser. Per Infrarotdetektor wird der Flug der Säugetiere im Dunkeln hörbar. Sie sind so klein, dass sie in eine Streichholzschachtel passen.
Die Burg zieht Touristen an und hilft gegen den Trend zur Abwanderung, wie Lenzens Amtsdirektor Harald Ziegler feststellt. „Das hätten wir alleine nicht bewirken können“, sagt er und hofft auf Rückkehrer in die alte Heimat. Einige gibt es schon, die sich wieder in einem der schmucken, alten Fachwerkhäuser niedergelassen haben. Von der Digitalisierung erhofft sich Ziegler weitere Argumente für seine Stadt, wenn Beschäftigte ihren Job auch weit entfernt der Zentren von zu Hause aus erledigen können. Momentan pendeln viele Lenzener mit der Bahn nach Hamburg oder Berlin.
Noch sind viele der einst schönen Fachwerkhäuser der Elbestadt verlassen. Was saniert wurde, erscheint umso schöner. Ein amerikanischer Immobilienfonds glaubt zumindest an die Zukunft des Ortes. Die Spekulanten haben ein gut gelegenes Gebäude erworben, es aber nur mit einem neuen Dach gegen den weiteren Verfall gesichert. Jetzt warten die Käufer ab, bis der Grund und Boden auch in dieser Provinz teurer wird.
Der BUND betreibt von Lenzen aus eines der größten Hochwasserschutzprojekte Deutschlands. Deiche werden zurückgesetzt, damit sich der Fluss schadlos verbreitern kann. Neue Auenwälder entstehen. Nur noch ein Prozent der Flusslandschaften sind in einem so natürlichen Zustand. Viel Überzeugungsarbeit war dafür laut BUND-Chef Hubert Weiger notwendig: bei den Landwirten, die für den Deichrückbau Boden tauschen mussten, bei den Menschen, die der Renaturierung skeptisch gegenüberstanden. „Eine Stadt schöpft wieder Hoffnung“, sagt Weiger und sieht einen Paradigmenwechsel am Fluss: „Es war ein Zeichen des Fortschritts, Flüsse zu zerstören. Heute ist es umgekehrt.“
Wie sehr die Schifffahrt Vorfahrt hatte belegen laut Weiger die Ausgaben für den Ausbau der Wasserstraßen: 44 Milliarden Euro habe die öffentliche Hand dafür in den vergangenen Jahrzehnten ausgegeben. Dagegen wirkt die Förderung des Umweltministeriums für den Deichrückbau mit weniger als sechs Millionen Euro wie ein Tropfen auf dem heißen Stein.
Überzeugungsarbeit will der vor allem in Süddeutschland beheimatete BUND im Vierländereck leisten. Dass es klappen kann, beweist Johnny Buck, der auf der anderen Elbseite wohnt und mit einer Bürgerinitiative eine alte Bockwindmühle wieder aufgebaut hat, in die er Touristen führt. In einer seltsamen Mischung aus Platt und Berlinerisch erklärt er die Funktionsweise. „Ick gloobe, dat lööft“, sagt er beispielsweise. Man versteht, wie die Mühle funktioniert und dass der Müller trotz der beträchtlichen Investition in die für damalige Verhältnisse aufwendige Technik kein reicher Mann wurde. Heute würde man sagen, das Anlagekapital gehörte einem Investor. Früher war das der örtliche Adlige, der den Handwerker für sich schuften ließ. Das Erlebnis gehört zu dem Angebot rund um das Elbe-Projekt, das Touristen anlockt und Geld bringt.
Die Elbe ist nach wie vor ein Grenzfluss. Die Kontakte zwischen beiden Seiten sind eher selten. Ziegler, der selbst aus Niedersachsen stammt, hat auf Kosten seiner Kommune eine alte Fährverbindung wiederbelebt. So können die Radler vom Elbeweg auch mal rüber nach Schnackenburg, dem letzten Zipfel Niedersachsens im Wendland. Zu DDR-Zeiten führte nur eine Straße in den Ort hinein und wieder hinaus. Rundum war Grenze. Heute kann man mit dem Rad von hier aus durch die Elbauen zur Erlebnistour starten, vorbei an Johnny Bucks alter Mühle und hin zum verdienten Happen bei „Anne Elbe“.