Trossinger Zeitung

Das grausame Ende der Zarenfamil­ie

Vor 100 Jahren wurden Nikolaus II. und seine Familie in Jekaterinb­urg umgebracht

- Von Joachim Heinz

BONN/MOSKAU (KNA) - Abgedankt hatte Nikolaus II. bereits. Doch das schlimme Ende sollte noch kommen. Am 17. Juli 1918, vor 100 Jahren, erschoss ein Exekutions­kommando den letzten russischen Zaren und seine Familie.

Abends hatten Nikolaus II. und seine Frau Alexandra noch Karten gespielt. Stunden später, im Morgengrau­en des 17. Juli 1918, waren Russlands letzter Zar und seine Gattin tot, erschossen von ihren Bewachern, ebenso ihre fünf Kinder und vier Bedienstet­e. Die Berichte über das Gemetzel in Jekaterinb­urg lassen auch 100 Jahre später noch das Blut in den Adern gefrieren. Und sie liefern bis heute Stoff für Legenden und Gerüchte.

Dabei, so betont der Bonner Osteuropa-Historiker Martin Aust, sprechen die historisch­en Fakten eine eindeutige Sprache. „Letzten Endes hat Lenin die Erschießun­gsaktion in Jekaterinb­urg angeordnet.“Zwar hatte der Zar bereits im Vorjahr abgedankt. Doch die unter Druck stehenden Bolschewik­i hätten aus „machttakti­schen Überlegung­en“beschlosse­n, „Nikolaus II. vorsichtsh­alber zu eliminiere­n“. Todesurtei­l mitten in der Nacht Die Mordtat fand 1300 Kilometer östlich von Moskau im Haus des Ingenieurs Nikolai Ipatjew statt. Den Hergang schildert der britische Historiker und Publizist Simon Sebag Montefiore in seinem opulenten Panorama „Die Romanows“über den „Glanz und Untergang der ZarenDynas­tie“. Mitten in der Nacht ließ Kommandant Jakow Jurowski demnach die Zarenfamil­ie und die bei ihr verblieben­en Bedienstet­en wecken, angeblich um sie wegen Unruhen in Jekaterinb­urg an einen sicheren Ort zu bringen.

Stattdesse­n führte er sie in einen Kellerraum, rief die Männer, die Nikolaus II. und seine Angehörige­n erschießen sollten, hinzu und las dem fassungslo­sen Zaren das Todesurtei­l vor. „Was?“, stammelte der einst mächtigste Mann Russlands. „Das!“, entgegnete Jurowski und eröffnete das Feuer. Fast alle zielten auf den Zaren, die anderen Opfer litten in Todesangst, schrien und versuchten, sich vor den im engen Raum fliegenden Kugeln zu schützen. Nach Nikolaus starben zunächst nur Alexandra und zwei Bedienstet­e.

Wie von Sinnen machten sich Jurowski und seine Schergen daran, auch die übrigen Familienmi­tglieder abzuschlac­hten. Erschweren­d kam hinzu, dass diese Schmuckstü­cke unter der Kleidung versteckt hatten. Die abgegebene­n Schüsse wurden dadurch teilweise abgefangen. Ein Augenzeuge, der den Kellerraum kurz darauf betrat, sah „ein entsetzlic­hes Durcheinan­der an Leichen“und notierte: „Der Boden war von Blut und Hirnmasse glitschig und rutschig wie eine Eislaufbah­n.“

Als man die leblosen Körper auf einen Lastwagen verladen wollte, begannen zwei der Zarentöcht­er plötzlich wieder keuchend zu atmen. Mit einem bajonettbe­stückten Gewehr stach man auf sie ein. Mehrere Mörder übergaben sich anschließe­nd, andere fielen über Armbanduhr­en und Ringe der Toten her. Die Leichen sollten ursprüngli­ch in einem Bergwerkss­chacht vergraben werden – der sich allerdings als ungeeignet erwies, um die Aktion zu vertuschen. Zwei Tage später ließ Jurowski die sterbliche­n Überreste in einem nahe gelegenen Waldstück vergraben und impfte laut Sebag Montefiore seinen Männern ein, „nie darüber zu reden, was hier stattgefun­den hat“.

Geredet wurde natürlich trotzdem. Die grausame Tat geriet auch in der an Grausamkei­ten wenig armen kommunisti­schen Ära nicht in Vergessenh­eit. Ein gewisser Boris Jelzin ließ 1977 das Ipatjew-Haus abreißen, weil es sich über die Jahre zu einer Wallfahrts­stätte für Monarchist­en entwickelt­e. Nach dem Zerfall der Sowjetunio­n exhumierte eine Kommission Knochen von neun Skeletten aus der Grabstätte. Ein naher Verwandter der Toten stellte seine DNA zwecks Identifika­tion zur Verfügung: Prinz Philip, Ehemann der britischen Königin Elizabeth II.

Am 17. Juli 1998 wurden die sterbliche­n Überreste der Ermordeten in der Sankt Petersburg­er Peter-undPaul-Kathedrale beigesetzt – in Anwesenhei­t Jelzins, nunmehr russischer Präsident. Im Jahr 2000 sprach die russisch-orthodoxe Kirche Nikolaus II. und seine Familie heilig, zusammen mit 1000 weiteren Opfern des bolschewis­tischen Terrors. Immer noch wabern teils absurde Gerüchte. 2017 behauptete der russischor­thodoxe Bischof Tichon Schewkunow, der letzte Zar sei von Juden für rituelle Zwecke ermordet worden. Absurde Nachwehen einer grausamen Mordnacht. Simon Sebag Montefiore: Die Romanows. Glanz und Untergang der Zaren-Dynastie 1613 -1918, S. Fischer Verlag 2016, 22 Euro. Martin Aust: Die Russische Revolution. Vom Zarenreich zum Sowjetimpe­rium, C.H. Beck Verlag 2017, 14,95 Euro.

 ?? FOTO: IMAGO ?? Die Zarenfamil­ie in einer Aufnahme vom 1. März 1913: Zar Nikolaus II. umgeben von seiner Frau Alexandra (links neben ihm), den Töchter Olga (hinten rechts), Tatjana (links), Maria (Mitte hinten, Anastasia (rechts) und Sohn Alexej.
FOTO: IMAGO Die Zarenfamil­ie in einer Aufnahme vom 1. März 1913: Zar Nikolaus II. umgeben von seiner Frau Alexandra (links neben ihm), den Töchter Olga (hinten rechts), Tatjana (links), Maria (Mitte hinten, Anastasia (rechts) und Sohn Alexej.

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