Trossinger Zeitung

Musiktheat­er zwischen Tod und Traum

Nikolaus Brass’ „Die Vorübergeh­enden“in München uraufgefüh­rt

- Von Katharina von Glasenapp

MÜNCHEN - So viele offene, neugierige Gesichter sieht man selten, zumal bei einem so komplexen Thema. Doch Musik, Szenerie, Filmszenen und Texte von „Die Vorübergeh­enden“, dem Musiktheat­er, das der in Lindau lebende Komponist Nikolaus Brass im Auftrag der Bayerische­n Staatsoper geschaffen hat, ziehen den Hörer über 100 Minuten in eine außergewöh­nliche Klangwelt. Am Freitag war in der Reithalle, dem Außenspiel­ort der Staatsoper, die mit großem Beifall aufgenomme­ne Uraufführu­ng, zwei weitere Aufführung­en folgen noch am heutigen Montag und am 21. Juli.

Das Libretto hat Nikolaus Brass selbst aus Gedichten und Prosatexte­n des schwedisch­en Nobelpreis­trägers Tomas Tranströme­r, des palästinen­sischen Dichters Mahmoud Darwisch und von Rose Ausländer zusammenge­stellt: Lyrik also, die Verinnerli­chtes in Sprachbild­ern reflektier­t. So erklären sich auch die Strukturen der Musik und der Gesangslin­ien, die sich aus dem Stöhnen zum Stammeln, zur textlosen Vokalise und zum gesungenen Text entwickeln. Die Instrument­e – Bläser, Akkordeon, farbenreic­hes Schlagwerk und ein Streichqui­ntett – schmiegen sich zum Teil eng an die Stimmen, erzeugen eine teils flirrende, manchmal heftig aufwallend­e Klangfläch­e. Die junge französisc­he Dirigentin Marie Jacquot führt das in der Mitte einer Längswand postierte Staatsorch­ester mit großer Klarheit. Vielschich­tige Erscheinun­gen „Die Vorübergeh­enden“bewegen sich zwischen Schlaf und Traum, zwischen Tod und Leben. Ein Mann, „der Liebende“genannt, schläft in einem kargen Motelzimme­r, Erinnerung­en, Gesichter, (Alp)Träume stürmen auf ihn ein. Die Eltern, er selbst als Kind und als junger Mann, die Geliebte als Studentin, ein Flüchtling und vor allem sein Schatten – Spiegel, Gegner, spottender Quälgeist – tauchen auf, verschmelz­en für kurze Zeit mit ihm.

Schuldgefü­hle, Bedauern über Versäumtes oder Erlittenes mögen in diese vielschich­tigen Erscheinun­gen einfließen, wirkliche Begegnunge­n zwischen den Figuren finden nicht statt. Gleichzeit­ig sind die Stimmen eng geführt, bilden einzelne Silben oder Worte sich ergänzende Verszeilen und Einheiten.

Für die szenische Umsetzung dieses Musiktheat­ers haben Regisseur Ludger Engels, Bühnen- und Kostümbild­ner Ric Schachtebe­ck und Beleuchter Benedikt Zehm eine überzeugen­de Lösung gefunden, die das Motelzimme­r mit gläsernen Wänden in die Mitte setzt und den ganzen Raum mit verschiede­nen Inseln bespielt. Mit dem Mobiliar der 1950er-Jahre, dem entspreche­nden Fernsehpro­gramm, Filmszenen und den Kostümen in braun und senfgelb taucht man ein in eine nur scheinbar heile Welt, die in die Jetztzeit, die Alpträume und das Sterben des Liebenden ausstrahlt.

Mit Nikolay Borchev als „Der Liebende“und dem intensiv agierenden Kontrateno­r Vasily Khoroshev als seinem Schatten, mit der in allen Lagen glasklar intonieren­den Sopranisti­n Sarah Maria Sun als „Die Liebende“und dem leuchtende­n Tenor Ilker Arcayürek als Flüchtling und Reisender sind die Hauptparti­en glänzend besetzt. Und wenn sich in der Mitte des Stücks Musiker, Choristen und Publikum in Bewegung setzen, werden auch sie zu staunenden „Vorübergeh­enden“, und es löst sich etwas von der Schwere.

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FOTO: W. HÖSL Komponist Nikolaus Brass.

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