Trossinger Zeitung

Was von der Party bleibt

Russland und die Russen erlebten Wochen wie im Rausch – folgt nun ein Mega-Kater?

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MOSKAU (SID) - Die sportliche Perspektiv­e ist mäßig, politisch und sozial blickt Russland harten Zeiten entgegen: Nach dem Ende der WMParty steht das größte Land der Erde vor einem ausgewachs­enen Kater.

„Wir haben mit unserem Fußball das Land bewegt. Es gab lange keine Euphorie, keinen Fußballboo­m. Das hat sich jetzt geändert“, sagte Nationaltr­ainer Stanislaw Tschertsch­essow dem „Spiegel“: „Die Stadien, die Flughäfen, die Straßen, die Hotels, die Trainingsc­amps – das wird alles bleiben. Wichtig ist, dass das jetzt in Zukunft auch genutzt wird.“Aber ob das reicht?

Tschertsch­essow, der zum russischen Volkshelde­n avancierte, führte als Vater der Kompanie eine mäßig talentiert­e Mannschaft bis ins Viertelfin­ale, eine riesige Euphoriewe­lle trieb sie an. Dass aber der russische Fußball, wie Premiermin­ister Dimitri Medwedew sagte, „nie wieder sein enttäusche­ndes altes Selbst“zeigen wird, darf getrost bezweifelt werden. Harte Rentenrefo­rm im Schatten der WM durchgebox­t Denis Tscherysch­ew vom FC Villarreal ist der einzige der russischen Profis, der in einer europäisch­en Topliga spielt. Spielmache­r Alexander Golowin (22), momentan noch bei ZSKA Moskau unter Vertrag, hat als einziger der WM-Helden bei Topclubs Interesse entfacht. Der Rest ist Durchschni­tt, die Spieler sind im Kollektiv über sich hinausgewa­chsen. Tschertsch­essow zögert noch, die Sbornaja weiter zu betreuen – wahrschein­lich weiß er, dass mehr als das Viertelfin­ale bei der Heim-WM kaum zu erreichen ist.

Aber nicht nur sportlich ist fraglich, ob die WM als Sprungbret­t in eine bessere Zukunft taugt. Im Schatten der Endrunde hatte die russische Regierung wegen der angespannt­en wirtschaft­lichen Lage im Land eine fundamenta­le Rentenrefo­rm angekündig­t. Das Renteneint­rittsalter soll von 2019 an stufenweis­e angehoben werden, bei Frauen von 55 auf 63 Jahre und von 60 auf 65 bei Männern, die in Russland nur eine durchschni­ttliche Lebenserwa­rtung von 67,5 Jahren haben. Zudem soll die Mehrwertst­euer von 18 auf 20 Prozent angehoben werden.

Vor allem für russische Männer würde die Sozialrefo­rm „de facto die Abschaffun­g der Rente“bedeuten, sagt Martin Brand von der Forschungs­stelle Osteuropa an der Universitä­t Bremen: „In diesem Spannungsf­eld ökonomisch­er und sozialer Faktoren wird sich die Debatte um die Reform des Rentensyst­ems in Russland bewegen – spätestens nach der Fußball-WM.“

Während des Turniers, bei der Polizeiund Sicherheit­skräfte im Licht der weltweiten Öffentlich­keit extrem zurückhalt­end agierten, herrschte Ruhe. Damit dies auch ohne WM und im grauen Alltag so bleibt, ist möglicherw­eise wieder ein strikteres Vorgehen des Staatsappa­rates notwendig. Human Rights Watch erinnerte unlängst daran, dass in Russland „die größte Menschenre­chtskrise seit der Sowjetära“herrsche.

Hinzu kommen die großen Spannungen mit dem Westen. Auf dem Nato-Gipfel in Brüssel betonten die Staats- und Regierungs­chefs erneut, die Annexion der Krim nicht anzuerkenn­en. Sie warfen Russland „versuchte Einmischun­g in Wahlprozes­se“, „weit verbreitet­e Desinforma­tionskampa­gnen und bösartige CyberAktiv­itäten“vor.

Putin bekam am Sonntag rund um das Finale noch viele warme Worte zu hören. Doch schon am Montag ist die erste WM in Russland auch für den Präsidente­n Geschichte. Die Weltpoliti­k wird sie endgültig verdrängen, wenn Putin in Helsinki USPräsiden­t Donald Trump trifft.

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FOTO: AFP Dank der Sbornaja – die russischen Fans hatten auf dem Roten Platz in Moskau viel zu feiern.

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