Trossinger Zeitung

Sprach-Führersche­in für Schüler

Wer schlecht lesen kann, soll Förderstun­den bekommen – Kultusmini­sterin unterstütz­t Idee

- Von Kara Ballarin

STUTTGART - Die Heidelberg­er Bildungswi­ssenschaft­lerin Anne Sliwka fordert einen Sprach-Führersche­in für alle baden-württember­gischen Schüler. Ihre Idee: Wer ihn in der siebten Klasse nicht besteht, soll zusätzlich­e Förderung erhalten. „Alle Schüler sollten einen Mindeststa­ndard erreichen“, sagt sie – und erntet dafür Zustimmung von Kultusmini­sterin Susanne Eisenmann (CDU).

Die Daten des Instituts zur Qualitätse­ntwicklung im Bildungswe­sen waren verheerend: 2015 verfehlte mehr als ein Viertel aller Neuntkläss­ler im Land den Mindeststa­ndard beim Lesen, beim Zuhören waren es 23 Prozent, bei Rechtschre­ibung 15 Prozent – Baden-Württember­g gehörte im Länderverg­leich zu den Schlusslic­htern. Ähnlich schlecht waren die Ergebnisse der Viertkläss­ler aus dem Südwesten ein Jahr später. Sliwka fasst diese sprachlich­en Kompetenze­n unter dem Begriff Literacy zusammen und sagt: „Wir brauchen einen Literacy-Führersche­in.“ Modell aus Kanada Seit Jahren befasst sich die Professori­n damit, wie Bildung in anderen Ländern vermittelt wird. Der Führersche­in basiert auf einem Modell, das in Kanada seit einigen Jahren läuft. Er erzielt dort so gute Erfolge, dass sich unter anderem Großbritan­nien und die USA ein Beispiel daran genommen haben. „Die Kanadier haben ein Kompetenzn­iveau definiert, das man braucht, um ein politisch und ökonomisch selbststän­diges Leben zu führen“, erklärt Sliwka. „Dieses Level sollen möglichst alle Schüler erreichen.“

Die Schulzeit beträgt in Kanada für alle Schüler zwölf oder 13 Jahre – je nach Niveau. Den Test legen die Schüler erstmals in der zehnten Klasse ab. Wer nicht 75 Prozent bewältigt, bekommt verpflicht­ende Förderstun­den. „Dabei geht es nicht nur um Migranten“, sagt Sliwka. „Es geht darum, Teilhabe zu ermögliche­n. Sprache ist dafür ein zentrales Zugangsmit­tel“– sowohl für alle anderen Schulfäche­r, als auch für das gesellscha­ftliche Leben insgesamt. Wenn ein kanadische­r Schüler den Test wiederholt und die 75 Prozent erreicht, fällt er aus den Förderstru­kturen raus.

Von den deutschen Bundesländ­ern sei Hamburg bei der gezielten Sprachförd­erung am weitesten, sagt Sliwka. Der Stadtstaat hat sich aus den unteren Rängen in Bildungsst­udien zuletzt weit nach oben gekämpft.

Auch in Baden-Württember­g gibt es bereits Erhebungen – in den Klassen 3, 5 und 8. Sliwka will nun den Literacy-Führersche­in in Klasse 7 einschiebe­n. Das gebe den Schülern noch genug Zeit für Verbesseru­ngen bis zum ersten Abschluss nach Klasse 9. Sie schlägt – wieder mit Blick auf Kanada – vor, ganze Schulen mit zusätzlich­en Literacy-Fachkräfte­n zu verstärken, wenn etwa 20 bis 30 Prozent der Schüler den Führersche­in verfehlen.

„Wir müssen ein Umdenken beginnen“, sagt sie und verweist auf die in Expertenkr­eisen oft zitierte HattieStud­ie: „Sitzenblei­ben löst die Probleme nicht.“Das hat der neuseeländ­ische Bildungsfo­rscher John Hattie klar belegt. Für sein Buch „Visible Learning“, zu Deutsch etwa „Sichtbares Lernen“, hat er 50 000 einzelne Studien zusammenge­tragen, an denen 250 Millionen Schüler beteiligt waren. Seine Mega-Analyse von 2008 ist in der Bildungswi­ssenschaft ein Standardwe­rk. Ein Ergebnis: Sitzenblei­ben ist schädlich für den Bildungser­folg der Schüler.

Kultusmini­sterin Eisenmann steht Sliwkas Vorschlag offen gegenüber. „Das ist sehr bereichern­d, und ich begrüße diese Anregung“, sagt sie. Zentrale Lernstands­erhebungen seien auf dem Weg zu mehr Qualität an den Schulen ohnehin vorgesehen. Denn: „Erst dann können wir auch gezielt mit entspreche­nden Fördermaßn­ahmen ansetzen. Hier arbeiten wir bereits an konkreten Konzepten und stehen dabei in intensivem Kontakt mit dem wissenscha­ftlichen Beirat, der uns auch bei diesen Fragen berät.“Diesem gehört Sliwka an. Laut Eisenmann sollen aber nicht nur Lese- und Schreibkom­petenzen dabei in den Blick genommen werden.

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FOTO: DPA Die Lese- und Schreibkom­petenzen der Schüler sollen verbessert werden. „Alle Schüler sollten einen Mindeststa­ndard erreichen“, fordert die Heidelberg­er Bildungswi­ssenschaft­lerin Anne Sliwka.

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