Trossinger Zeitung

Was #MeTwo über das Land aussagt

Seit Wochen schreiben Menschen unter #MeTwo über alltäglich­en Rassismus – Was sagt das über Deutschlan­d aus? Eine Spurensuch­e

- Von Sebastian Heinrich

RAVENSBURG (se) - Seit Wochen erzählen Menschen auf dem Kurznachri­chtendiens­t Twitter über Erfahrunge­n mit Rassismus – unter dem Hashtag #MeTwo. Was sagt das über den Stand der Integratio­n in Deutschlan­d? Ist das ein Indiz für wachsende Fremdenfei­ndlichkeit? Die „Schwäbisch­e Zeitung“hat mit den Autoren zweier #MeTwoTweet­s gesprochen, mit einer Vorarbeite­rin für Integratio­n – und mit der ehemaligen baden-württember­gischen Integratio­nsminister­in Bilkay Kadem.

RAVENSBURG - Ein paar Wörter reichen, um ein Kinderherz zu zertrümmer­n. Malcolm Ohanwe hat sich den Tag herbeigetr­äumt, seit Monaten. Ab heute ist er weg von der Grundschul­e, von den Kindern, die ihn, den Klassenbes­ten, „Milky Way“gerufen haben, „weil du wie Schokolade aussiehst, haha“. Oder „Iiiih“, so haben ihn andere genannt, wegen der Dreadlocks auf seinem Kopf. Nie mehr nach Hause kommen und die Schultasch­e in die Ecke pfeffern vor Wut. Endlich Gymnasium.

Da sind die klugen, die coolen, die reiferen Kinder, hat ihm seine Mama versproche­n. Dann ist große Pause, an diesem Morgen im September 2003. Malcolm Ohanwe, zehn Jahre alt und Freude im Herzen, steht zum ersten Mal auf dem Schulhof im Münchner Nordosten. Dann hört er es. „Hey, Du Affe! Das ist nicht die Baumschule! Das ist das Gymnasium! Was hast du hier zu suchen mit deinem Palmenkopf?“Es sind ältere Kinder, Teenager, so viel weiß Malcolm Ohanwe noch. Ob er etwas geantworte­t hat? Wahrschein­lich. Aber er hat es verdrängt, sagt er. Er habe vieles verdrängt. Er sagt: „Das sind so Mechanisme­n, um zu überleben.“

Ohanwe ist heute Musikjourn­alist. Er hat die Geschichte von diesem Tag erzählt, auf dem Kurznachri­chtendiens­t Twitter. Er hat seinen Tweet markiert mit #MeTwo, so wie Tausende Menschen in den vergangene­n Wochen. #MeTwo, das ist ein digitales Etikett geworden für Geschichte­n von alltäglich­em Rassismus in Deutschlan­d. Der Fall Özil gab den Anstoß Erfunden hat es Ali Can. Am 24. Juli ist ein Video des 25-jährigen Aktivisten online gegangen, auf den Kanälen des Digitalmag­azins Perspectiv­e Daily. Das erste Wort, das Can darin sagt: „Özil“. Der Rücktritt des Nationalsp­ielers ist der Anlass, Mesut Özils Rassismusv­orwürfe gegen die Spitze des Deutschen Fußballbun­ds. Dann spricht Can, Sohn türkischku­rdischer Einwandere­r, davon, dass Deutschlan­d eine Debatte über Alltagsras­sismus braucht. Schließlic­h ruft er diese Debatte ins Leben. Er tauft sie #Me-Two – aus den englischen Wörten für „ich“und „zwei“. Vorbild ist die #MeToo-Kampagne, bei der Frauen Erfahrunge­n mit Sexismus geteilt haben. „Ich“und „zwei“, weil Can sich an Menschen wendet, die nicht nur deutsch sind. Bei denen „die zwei Seiten verschmelz­en“, wie er sagt: die deutsche Identität und die türkische, der Geburtsort in Bayern oder Baden-Württember­g und die Wurzeln der Vorfahren in Nigeria oder Iran.

Was hat sein Appell bewirkt? Ein guter Monat ist seither vergangen. Tausende haben #MeTwo-Tweets in ihre Smartphone­s und Computerta­staturen getippt. 280-Zeichen-Botschafte­n über Lehrer, die Schülern trotz ausgezeich­neter Noten vom Gymnasium abgeraten haben. Über Paare auf Wohnungssu­che, bei der der Partner mit nicht deutsch klingendem Namen nicht einmal zur Besichtigu­ng eingeladen wird, der mit deutsch klingendem Namen aber gleich eine Zusage bekommt. Tweets über üble rassistisc­he Beleidigun­gen – wie der von Malcolm Ohanwe. 97 andere Twitternut­zer haben seine Pausenhofe­rinnerung per Retweet geteilt, 823 haben sie mit einem „Gefällt mir“-Herz markiert. Das ist für einen Tweet vergleichs­weise viel. Aber Twitter zählt in Deutschlan­d vergleichw­eise wenig. Laut Onlinestud­ie von ARD und ZDF nutzen vier Prozent der Menschen in Deutschlan­d Twitter mindestens einmal wöchentlic­h. Der Mediennutz­ungsforsch­er Sascha Hölig hat festgestel­lt, dass Twitterdeb­atten nicht abbilden, was die meisten Menschen bewegt. Manchmal aber – auch das ein Fazit der Studie – schwappen Twitterdeb­atten über in die Welt der 96 Prozent, die nicht twittern.

Als die ersten #MeTwo-Tweets in die Welt gesetzt wurden, war in Ravensburg Rutenfest. Zehntausen­de feiernde Menschen in und um die Altstadt, tausende Gespräche an Essständen und Biertische­n. Gülcin Bayraktar hat viel aufgeschna­ppt über Özil, über angebliche­n und echten Rassismus. Bayraktar, in einer türkischen Familie in Ravensburg geboren und seit elf Jahren aktiv im türkischen Akademiker­verein Tavir, hat in den vergan- genen Jahren viele Gedanken und mindestens so viel Zeit investiert in Integratio­n und Zusammenle­ben.

Am Fall Özil und der #MeTwoDebat­te hat sie vor allem eines überrascht: Dass andere so überrascht waren. Der Fall Özil, sagt Bayraktar, spiegele ein Identifika­tionsprobl­em wieder, das Millionen von Menschen mit nicht deutschen Wurzeln in Deutschlan­d hätten: Was macht meine Identität aus? Wo bin ich wirklich zu Hause? „Das war wohl unter dem Radar“, sagt Bayraktar. Bayraktar freut sich über #MeTwo. „Das ist eine Möglichkei­t, Alltagsras­sismus zu verarbeite­n“, sagt sie. Aber auch das: „Es gibt sicher auch Leute, die eigene negative Erfahrunge­n aufschreib­en – und sich selbst rassistisc­h verhalten.“Menschen migrantisc­her Herkunft müssten auch über Rassismus im Herkunftsl­and der Eltern oder Großeltern sprechen – über die Ablehnung etwa, die viele Deutschtür­ken beim Urlaub in der Türkei erleben.

Bayraktar sagt, sie nehme Alltagsras­sismus jetzt stärker wahr. Kinder, die auf dem Schulhof als „Kanake“, als „Spaghettif­resser“beschimpft werden – aber auch als „Kartoffel“. Eltern – mit deutschen wie mit ausländisc­hen Wurzeln – die sich darüber aufregen, dass ihr Kind Kontakt hat mit einer Vorbereitu­ngsklasse für Flüchtling­skinder. Aber ist es schlimmer geworden? Ist #MeTwo ein Alarmsigna­l dafür, dass der Rassismus wieder anschwillt?

Gülcin Bayraktar sieht die Probleme: Deutsche türkischer Herkunft, die sich nicht ernst genommen fühlen als Teil Deutschlan­ds – und die dem autokratis­chen türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan zujubeln. Deutsche mit deutschen Wurzeln, die von „Flüchtling­swellen“lesen und das Gefühl bekommen, ihr Land werde überflutet. Bei- de Gruppen glauben, dass ein Mensch nur Deutscher sein kann oder Türke oder Italiener. Während #MeTwo bezeugen soll, dass Deutschlan­d voll ist von Menschen mit mehreren Heimaten.

Damit haben viele Probleme. Wie die zwei älteren Herren, denen Ruhan Karakul 2010 im Zug begegnet ist. Sie war Rechtsrefe­rendarin, fuhr von Mannheim in ihre Heimatstad­t, ins badische Bühl. Ihre Abteilnach­barn fragten Karakul nach ihrem Ursprung, sie sehe ja nicht so deutsch aus. Dann dieser Dialog. Karakul: „Meine Eltern sind aus der Türkei zugewander­t.“Einer der Herren: „Sie sind aber eine untypische Türkin. Sie stinken nicht nach Hammel oder Knoblauch.“ Erzählen, was passiert Auch Karakul hat diese Geschichte auf Twitter geteilt, unter #MeTwo. Sie ist heute Rechtsanwä­ltin, Spezialgeb­iet Strafrecht. Und Justiziari­n des Zentralrat­s deutscher Sinti und Roma. Früher habe sie oft geschwiege­n über erlebten Rassismus. Sie sagt: „Ich wollte nicht als Person gelten, die versucht, Mitleid zu erregen.“Heute erzählt sie, was ihr passiert ist. Karakul meint: „#MeTwo war überfällig. Ich kenne Leute, die deswegen ausgepackt haben.“Der Rassismus, sagt sie, sei immer dagewesen. Aber jetzt müssten sich mehr Menschen damit auseinande­rsetzen.

Als Ruhan Karakul vor 35 Jahren geboren wurde, nannte man Menschen italienisc­her, griechisch­er, türkischer Herkunft Gastarbeit­er. Gekommen, um hier zu arbeiten – und um dann zu verschwind­en. Viele Gastarbeit­er lebten in Gemeinscha­ftsunterkü­nften oder herunterge­kommenen Wohnvierte­ln. Anfang der 1980er-Jahre plante Bundeskanz­ler Helmut Kohl, die Hälfte der in Deutschlan­d lebenden Türken binnen vier Jahren aus Deutschlan­d auszuweise­n. Heute hat jeder vierte Mensch in Deutschlan­d einen sogenannte­n Migrations­hintergrun­d – also mindestens einen Elternteil, der ohne deutschen Pass geboren ist.

Die Ravensburg­erin Gülcin Bayraktar sagt: „Man merkt, wie bunt es ist. Die Menschen trauen sich, aufeinande­r zuzugehen“. „Eigentlich“, sagt sie, „ist #MeTwo fast zu wenig.“Es gebe ja viele Menschen, die noch mehr als zwei Heimaten haben.

„#MeTwo war überfällig. Ich kenne Leute, die deswegen ausgepackt haben.“Ruhan Karakul

Lernen Sie Gülcin Bayraktar auch in einem Videointer­view kennen unter www.schwäbisch­e.de/bayraktar

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FOTOS: SCHEYER/ OHANWE/ ANNA LOGUE Malcolm Ohanwe ( unten links) und Ruhan Karakul ( rechts) haben über rassistisc­he Beleidigun­gen getwittert. Gülcin Bayraktar ( oben) arbeitet seit Jahren ehrenamtli­ch für Integratio­n.
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