Trossinger Zeitung

Lichtstrei­f am Horizont

- Von Welf Grombacher

Im Alexanderp­ark in Moskau verfolgt Marina Yurlowa nach der Hinrichtun­g des Zaren wie die Bolschewik­i ein Denkmal für den Revolution­shelden Robespierr­e errichten, das kurz darauf einstürzt, weil es aus schlechtem Beton gegossen wurde. Im Londoner Hotel Carlton regt der Tellerwäsc­her Nguyen Tat Tanh an, die Essensrest­e an Bedürftige zu verteilen. Später wird er sich Ho Chi Minh nennen und erster Premiermin­ister von Vietnam werden. Und in Indien entwickelt Gandhi seine Strategie des passiven Widerstand­es gegen die britische Kolonialma­cht. Er führt sein Land in die Unabhängig­keit, bevor er am 30. Januar 1948 von einem Hindu-Nationalis­ten erschossen wird.

Das sind drei Schicksale von insgesamt 22, die Daniel Schönpflug in „Kometenjah­re. 1918: Die Welt im Umbruch“beleuchtet. In kurzen Episoden wirft er Schlaglich­ter auf das Leben von Politikern und Künstlern. Er lässt so ein Mosaik der Zeit nach dem Waffenstil­lstandsabk­ommen vom 11. November 1918 entstehen. Allesamt „Seiltänzer“seien sie gewesen, schreibt der Historiker, weil sie in diesem dunklen Moment der Geschichte die Chance sahen, etwas zu bewegen. „Revolution­en, soweit das Auge reicht.“

Ein interessan­ter Ansatz. Trotzdem will die große Faszinatio­n irgendwie nicht aufkommen. Ob es daran liegt, dass es bereits zu viele dieser collageart­igen Bücher gab, die aus mehreren Stimmen die Atmosphäre eines Jahres evozieren wollten? Schönpflug folgt diesem bewährten Konstrukti­onsprinzip und der Erfolg wird gewiss auch ihm sicher sein. Nicht zuletzt, weil sich die Ereignisse heuer zum 100. Mal jähren. Daniel Schönpflug: Kometenjah­re. 1918: Die Welt im Aufbruch, S. Fischer, 320 Seiten, 20 Euro.

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