Trossinger Zeitung

Ein Land, das herausstic­ht

Nirgends in der EU gibt es so viele Nichtrelig­iöse wie in Tschechien – und fast nirgends so viel Europaskep­sis

- Von Sebastian Heinrich

RAVENSBURG - Das ist ein Buchstabe, den es auf dieser Welt nur im Tschechisc­hen gibt. Und es ist auch logisch, dass sich gerade Tschechien mit seinen gerade einmal zehn Millionen Einwohnern diese Eigenart leistet. Dieses Land sticht heraus, aus vielen Gründen. In keiner Nation der Welt ist der Bierkonsum pro Kopf höher als in Tschechien. In keinem anderen europäisch­en Land leben mehr Menschen, die sich keiner Religion zugehörig fühlen – es ist mehr als die Hälfte der Bevölkerun­g. Und das, obwohl die zwei Nachbarsta­aten Polen und Slowakei bis heute erzkatholi­sch sind.

Für beide Spitzenwer­te liegt der Grund in der Geschichte. Die Bierbrauer­ei ist ein Erbe der Millionen Einwohner deutscher Sprache, die bis zu ihrer Vertreibun­g nach dem Zweiten Weltkrieg über Jahrhunder­te im heutigen Tschechien gelebt haben. Und die Abwendung von der Religion liegt daran, dass die österreich­ischen Habsburger – die jahrhunder­telang über die Landesteil­e Böhmen und Mähren herrschten – den Katholizis­mus den tschechisc­hsprachige­n Bewohnern aufgezwäng­t hatten. 1918, als dann das Habsburger­reich zusammenbr­ach und die Tschechosl­owakei entstand, wendeten sich die Tschechen in Scharen ab von der Religion.

Auf Tschechisc­h, der Sprache mit dem wurde Weltlitera­tur geschriebe­n: Die satirische­n Theaterstü­cke von Václav Havel etwa, der wegen seines Widerstand­s gegen die kommunisti­sche Diktatur ins Gefängnis ging – und später, nach der Wende zur Freiheit, Staatspräs­ident wurde. Die ersten Romane von Milan Kundera, der erst nach Frankreich aus- wanderte und in den 1990er-Jahren ins Französisc­he wechselte. Tschechien ist eine Kulturnati­on: Hier wurden die auf Deutsch schreibend­en Franz Kafka und Adalbert Stifter geboren und die auf Tschechisc­h schreibend­en Jaroslav Hašek, Vater des Soldaten Schwejk, und Karel Capek, Science-Fiction-Pionier, der in seinem Theaterstü­ck „R.U.R.“das Wort „Roboter“in die Welt setzte. Früher multikultu­rell Das haben Jahrhunder­te lang Menschen mit deutscher wie tschechisc­her Mutterspra­che, Christen und Juden benutzt. Das Gebiet des heutigen Tschechien war einmal multikultu­rell, Kulturen und Sprachen beeinfluss­ten und vermischte­n sich hier. Das merkt man bis heute an der Küche – in tschechisc­hen Wirtshäuse­rn isst man ganz ähnlich wie in bayerische­n und österreich­ischen – und an der tschechisc­hen Sprache: In ihr gibt es den „gaunr“, das „ksicht“und wer „das passt schon“sagen will, sagt „fajn“.

Das bedeutet Zungenakro­batik. Vereinfach­t gesagt, muss man dazu ein gerolltes R bilden – und sofort danach ein stimmloses „sch“. Das bekommt kaum jemand hin, der nicht in Tschechien geboren ist, selbst Polen und Slowaken scheitern mehrheitli­ch daran. Heute ist Tschechien ein ziemlich homogenes Land. Das symbolisie­rt heute auch, dass ein großer Teil der Tschechen im eigenen Land unter sich bleiben will. Ab dem 19. Jahrhunder­t haben aggressive­r Nationalis­mus und Antisemiti­smus das Land radikal verändert. Ein Universitä­tsdozent aus Olmütz im Osten Tschechien­s hat es vor ein paar Jahren so gesagt: „Wir waren einmal das spannendst­e Land Europas. Dann haben die Deutschen die Juden eliminiert – und dann haben die Tschechen die Deutschen verjagt. Und jetzt sind wir ein langweilig­es Land.“Im 21. Jahrhunder­t prägt ein nach innen gerichtete­r Nationalis­mus die Tschechisc­he Republik: Eine Mehrheit der Tschechen will eher unter sich bleiben.

Das wirkt sich aus auf die Haltung zu Europa: Etwa drei Viertel der Tschechen sehen laut Umfragen der vergangene­n Jahre in der EU-Mitgliedsc­haft ihres Landes eher Nach- als Vorteile. Dabei hat sich Tschechien seit dem EU-Beitritt 2004 wirtschaft­lich bestens entwickelt: Das Lohnniveau ist deutlich gestiegen, es herrscht fast Vollbeschä­ftigung, ein Billigland wie in den 1990ern ist Tschechien längst nicht mehr. Trotzdem: Tschechien ist heute Teil der Visegrad-Staaten, die Flüchtling­squoten für ihre Länder strikt ablehnen. Selbst linke Parteien wie die Sozialdemo­kraten sind fast ausschließ­lich gegen Immigratio­n. Die Regierungs­bildung Ende Juni wäre fast gescheiter­t, weil der populistis­che Staatspräs­ident Milos Zeman den Außenminis­ter-Kandidaten Miroslav Poche für zu „migrations­freundlich“hielt. Poches Schuld, in Zemans Augen: Er hatte gesagt, Migration sei ein „komplexes, gesamteuro­päisches Problem.“

Der tschechisc­he Spitzenpol­itiker, der heute den aggressivs­ten – und oft offen rassistisc­hen – Ton gegenüber Migranten vertritt, heißt übrigens Tomio Okamura. Er ist Chef der rechtsextr­emen Partei SPD. Und er ist Sohn einer Tschechin und eines Japaners. „Neuveřitel­né“, um es mit dem tschechisc­hen zu sagen. Unglaublic­h. Im Internet finden Sie alle Teile der Europa- Serie: www.schwäbisch­e.de/ sommerseri­e-europa

Russland plant größtes Manöver seit Kaltem Krieg

MOSKAU (AFP) - Russland will im kommenden Monat rund 300 000 Soldaten für das größte Militärman­över seit dem Ende des Kalten Krieges mobilisier­en. An der Übung „Wostok-2018“sollten rund 1000 Flugzeuge und 36 000 Militärfah­rzeuge beteiligt sein, teilte das Verteidigu­ngsministe­rium am Dienstag in Moskau mit. Das viertägige Manöver startet am 11. September im Osten Russlands. Auch China und die Mongolei beteiligen sich daran. Der Minister zog eine Parallele zur Zeit des Kalten Kriegs. Die Militärübu­ng werde „so etwas wie eine Wiederholu­ng von Sapad-81 sein, aber in mancherlei Hinsicht sogar noch größer“, sagte er. Damit spielte er auf ein Großmanöve­r im Jahr 1981 in Osteuropa an.

USA wollen Militärübu­ngen mit Südkorea fortsetzen

WASHINGTON (dpa) - Nach mangelnden Fortschrit­ten bei den Bemühungen um atomare Abrüstung in Nordkorea wollen die USA Regierungs­angaben zufolge keine weiteren Manöver mit Südkorea aussetzen. „Wir haben derzeit keine Pläne, weitere Übungen zu suspendier­en“, sagte Verteidigu­ngsministe­r Jim Mattis am Dienstag bei einer Pressekonf­erenz im Pentagon.

Rom will neue Genua-Brücke nicht Betreiber überlassen

GENUA (dpa) - Die italienisc­he Regierung will den Neubau einer Ersatzbrüc­ke in Genua nicht dem in die Kritik geratenen Autobahnbe­treiber überlassen. Das Unternehme­n Autostrade per l'Italia solle das Geld geben, „aber wir bauen die Brücke wieder auf“, sagte Verkehrsmi­nister Danilo Toninelli am Dienstag dem Radiosende­r Rai Radio 1. Alles andere wäre den Familien der Opfer und den Bürgern der Stadt gegenüber respektlos, sagte der Politiker der Fünf-Sterne-Bewegung. Die Regierung gibt dem von der Benetton-Familie kontrollie­rten Autobahnbe­treiber die Schuld am Einsturz der Brücke vor zwei Wochen, bei dem 43 Menschen starben.

Taliban nehmen Bezirk in Nordafghan­istan ein

KABUL (dpa) - Die radikalisl­amischen Taliban haben einen weiteren Bezirk im Norden Afghanista­ns erobert und Dutzende Soldaten getötet und verletzt. Afghanisch­e Sicherheit­skräfte hätten am Montag ihre letzte Militärbas­is im Bezirk Ghormatsch in der Provinz Fariab aufgegeben, sagte der Provinzrat Sajid Abdul Baki Haschemi. Beim Rückzug der Soldaten in die Provinzhau­ptstadt Maimana sei der Konvoi aus rund 80 Fahrzeugen in einen Hinterhalt der Taliban geraten. Mindestens 25 Soldaten seien getötet und 20 verwundet worden.

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FOTO: DPA Anziehungs­punkt für Millionen Touristen pro Jahr: Tschechien­s Hauptstadt Prag mit der Karlsbrück­e und der Burg.
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