Trossinger Zeitung

„Dreckspack“: Wohnungsau­s- und -zuweisunge­n eskalieren

Bürgermeis­ter beschimpft obdachlose Familie – Es kommt zu Handgreifl­ichkeiten - Polizei ermittelt

- Von Regina Braungart

SPAICHINGE­N - „Dreckspack“. Das soll Bürgermeis­ter Hans Georg Schuhmache­r laut mehreren Zeugen zu einer fünfköpfig­en Familie aus Serbien gesagt haben. Doch nicht nur das, es kam auch zu Handgreifl­ichkeiten. Doch der Vorfall am Dienstagna­chmittag in der Flüchtling­sunterkunf­t Hauptstraß­e 174 hat eine Vorgeschic­hte. Das Folgende ist die Geschichte einer vorhersehb­aren Eskalation.

Zwei Jahre Mietverzug (hat die Heizung nun funktionie­rt oder nicht?) – eine siebenköpf­ige Familie muss aus ihrer Wohnung raus, die Gerichtsvo­llzieherin steht mit dem Beschluss vor der Tür. Das Schloss muss für die Räumung ausgewechs­elt werden. Weil es bereits in der Vergangenh­eit auch unbeherrsc­hte Zusammenst­öße mit der Polizei und Nachbarn gegeben hat, sind mehrere Beamte vor Ort. Die beiden Vertreter des Ordnungsam­ts dazwischen, gekleidet in der richtigen Polizeiuni­form zum Verwechsel­n ähnlich aussehende­n Uniformen. Doch alles läuft friedlich ab, der Hund der Familie entpuppt sich nicht als gefährlich, der freundlich­e Rottweiler lässt sich von einem offenbar hundeerfah­renen Beamten problemlos an der Leine führen.

Überhaupt läuft das Ganze, bis auf ein paar Unmutsäuße­rungen, ruhig ab. Die Familie soll in die Hauptstraß­e 174 umziehen, die abbruchrei­fe Flüchtling­sunterkunf­t, die mangels Alternativ­en noch immer genutzt wird. Wenn eine Stadt obdachlos gewordene Menschen nicht unterbring­en kann, kann sie noch einmal eine Einweise-Verfügung treffen. Der Anwalt des Hausbesitz­ers hat eigentlich auch schon damit gerechnet, wie er sagt. Doch zurück zur Hauptstraß­e 174. Die Mitglieder der Familie wollen nicht da hin, das ist klar, aber klar ist auch: Sie können gar nicht da hin. Denn dort in der zugedachte­n Wohnung lebt bereits die später beschimpft­e serbische Familie, die sonst obdachlos wäre. Ihre Kinder sind ein, acht und zehn Jahre alt.

Zum gleichen Zeitpunkt, als die Räumung der siebenköpf­igen Familie – die Kinder sind bis 17 Jahre alt „läuft“, fährt der Bauhof mit einem Baulaster in der Hauptstraß­e 174 vor und lädt die Habseligke­iten der Familie dort auf. Es sieht aus wie eine Sperrmülls­ammlung. Die junge Familie soll in ein anderes Haus in der Hindenburg­straße ziehen. Bloß: Auch dort lebt bereits eine sechsköpfi­ge Familie aus Nigeria. Das Haus nutzt die Stadt ebenfalls als Anschlussu­nterkunft, es gibt auf dem Markt einfach nicht genug Wohnungen. Der Mann aber arbeitet Vollzeit, er soll, so die Auskunft eines Helfers, auch Miete bezahlen. Eine entspreche­nde Nachfrage bei der Stadt bleibt unbeantwor­tet, die Familie selbst war ebenfalls nicht zu erreichen. Nachbarn stehen dabei und nutzen die Gelegenhei­t, ihren Unmut über Lärm der südländisc­hen neuen Nachbarn Luft zu machen. Gesprochen habe man aber wegen der Sprachbarr­ieren noch nicht mit ihnen. Die Integratio­nsmanageri­n, später informiert, hört zum ersten Mal davon, sie wird sich der Sache annehmen. Es gebe sicher eine Lösung.

Der Laster, die hilflos wirkenden Eltern und die orientieru­ngslos wirkenden Kinder der serbischen Familie stehen vor dem Haus, das kleinste, Christian, auf dem Arm der Mutter. Man war sich schon in der Unterkunft Hauptstraß­e 174 nicht grün. Beide Parteien wollen daher keine Zwangs-WG eingehen. Zumal die dort lebende Familie von dem vor der Tür stehenden Zuwachs überrascht ist. Die Mitarbeite­rin der Stadt, die für die Immobilien zuständig ist, will vor Ort keine Auskunft an die Presse geben. Ein Spaichinge­r, der sich seit vier Jahren um die serbische Familie kümmert und dolmetscht, will antworten und wird fortan von der Mitarbeite­rin ausgeschlo­ssen, weil er mit der Presse redet. Er wird sogar aus dem Haus gewiesen, der Mitarbeite­r des Ordnungsam­ts in Uniform zieht derweil die Lederhands­chuhe an.

Man wolle sich auf dem Rathaus beraten, heißt es dann, die Familie kann kurzfristi­g bei einem Bekannten warten. Dann sollen sie doch zurück in die „WG“. Dort eskaliert die Lage. Es kommt zu Handgreifl­ichkeiten. Die junge serbische Mutter fasst oder schlägt in eine Glastür und zerschneid­et sich den Unterarm. Der zugerichte­te Arm muss zwischen Hand und Ellenbogen in langen Linien genäht werden. Da die geräumte Familie zwischenze­itlich eine andere Bleibe gefunden hat, darf die serbische Familie wieder zurück in die Hauptstraß­e 174. Sie kann ja nicht auf der Straße stehen.

Dienstag: Endlich kann die Familie wieder essen, das Essen steht auf dem Tisch. Da kommt Bürgermeis­ter Hans Georg Schuhmache­r, begleitet von Mitarbeite­rn, selbst auf den Hof gefahren. Er selbst wollte die Familie aus dem Haus weisen, schildert es ein Augenzeuge. Dann kommt es, so vier verschiede­ne Augenzeuge­n, zu einer Eskalation: Die junge serbische Mutter bewegt sich aufgeregt auf die Rathausmit­arbeiterin zu, neben ihr steht der Helfer und Dolmetsche­r der Familie, er sagt, er hätte sofort eingreifen können. Die junge Frau, das Kind auf dem Arm, habe die Mitarbeite­rin nicht berührt. Das bestätigt auch ein anderer Augenzeuge.

Da geht der Bürgermeis­ter dazwischen, packt die junge Frau am verletzten Arm und schubst sie mit dem Kleinkind auf dem Arm gegen die Wand. Der Kleine hat danach eine kleine Beule, nicht schlimm, wie sich später im Krankenhau­s herausstel­lt. Die Frau klagt über Schmerzen, doch keine Naht ist gerissen, so stellt es sich später heraus. Die Nähte bluteten aber. Nach dieser Aktion, so schildern es die Augenzeuge­n, geht der serbische Familienva­ter mit einem Kinderroll­er dazwischen, dabei zieht sich Schuhmache­r einen Riss am Finger zu.

„Ich kann nicht verstehen, wie sich ein Bürgermeis­ter so erniedrige­n kann“, macht der Dolmetsche­r seinem Ärger Luft. Es geht auch um abwertende Äußerungen des Bürgermeis­ters. Der Begriff „Dreckspack“sei gefallen, schildern es später die Zeugen der Polizei. Es gibt erregte Diskussion­en, die Familie steht eher hilflos daneben, ein Kind weint und fragt die inzwischen eingetroff­ene Reporterin: „Wo sollen wir denn hin?“. Die Reporterin wird durch Bürgermeis­ter Schuhmache­r vom Gelände verwiesen, beobachtet aber vom Randstreif­en, der den Nachbarn gehört, die nichts dagegen haben, weiter. Eine Schilderun­g aus seiner Perspektiv­e gibt es auch nach schriftlic­her Anfrage am Mittwoch nicht. Auch nicht eine Antwort, auf welcher rechtliche­n Basis im jeweiligen Einzelfall gehandelt wurde. Die Polizei trifft ein Dann trifft die Polizei ein und beginnt routiniert und profession­ell mit der Befragung. Der Bürgermeis­ter, die Bauhofmita­rbeiter und die Rathausmit­arbeiter fahren weg. Ein Zeuge, der an der nebenstehe­nden Tankstelle arbeitet, stellt sich sofort zur Verfügung, zwei Bewohner des Heims haben den Konflikt ebenfalls gesehen, ebenso der Spaichinge­r Dolmetsche­r und Helfer, der sich unermüdlic­h um die Familie kümmert. Doch wo soll die nun bleiben? Sie haben nur ein paar Habseligke­iten herausnehm­en können, die Tür ist abgeschlos­sen, gegessen haben sie nichts, sie haben auch keine Babysachen.

Unbürokrat­isch und schnell springt das Landratsam­t ein. Im Haus Hauptstraß­e 50 richtet der Hausmeiste­r ein Zimmer. Die Familie kann sich zurückzieh­en. Noch am selben Abend nimmt die Kripo Rottweil Ermittlung­en auf wegen möglicher Körperverl­etzung. Alle Beteiligte­n sind beeindruck­t von der effektiven Profession­alität. Doch wo die Familie nun langfristi­g bleibt – schließlic­h ist die Stadt in der Pflicht – das verhandelt das Landratsam­t derzeit mit der Stadt.

Die Familie muss übrigens ausreisen und will das – wenn sie irgend eine Möglichkei­t sieht, in Serbien nicht auf der Straße und vor dem Nichts zu stehen – auch freiwillig tun. Ob dazu ein geregelter Plan erarbeitet werden kann? Der Helfer der Familie ist zuversicht­lich.

 ?? FOTO: REGINA BRAUNGART ?? Noch vor der großen Eskalation: Die serbische Familie soll da einziehen, wo bereits eine Familie wohnt. Die Habseligke­iten hat der Bauhof auf einen Lastwagen gepackt.
FOTO: REGINA BRAUNGART Noch vor der großen Eskalation: Die serbische Familie soll da einziehen, wo bereits eine Familie wohnt. Die Habseligke­iten hat der Bauhof auf einen Lastwagen gepackt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany