Trossinger Zeitung

Schöner turnen

Kim Bui vom MTV Stuttgart konterkari­ert die Schnellleb­igkeit ihres Sports, weil sie heute bewusster tut, was sie tut

- Von Joachim Lindinger

STUTTGART - Das Turnen ist anders mit 29: andere Motivation, anderes Erleben. Kim Bui ist 29, vor zwölf Tagen in Stuttgart hat sie die erste nationale WM-Qualifikat­ion gewonnen (als, pardon, die mit Abstand Älteste), bei den Deutschen Meistersch­aften in Leipzig gehört sie am Wochenende zu den Favoritinn­en. Noch nie, sagen viele, war Kim Bui an Balken, Barren, Boden und Sprung so gut wie heute. Wie das gehen kann, mit 29? „Es ist der Spaß, es ist die Freude am Turnen. Man macht’s einfach ein bisschen bewusster. Viel schöner“sei das, „ein viel schöneres Gefühl“.

Schöner turnen? Da darf Frau durchaus mal hoffend vorausscha­uen: Die Heim-Weltmeiste­rschaft in Stuttgart ist natürlich (ein) großes Ziel der gebürtigen Tübingerin. Die HeimWeltme­isterschaf­t im Oktober 2019. Kim Bui lacht, kurz denkt sie zurück: WM in Stuttgart war auch 2007.

18 und Ersatzturn­erin ist Kim Bui damals gewesen, das nagte, frustriert­e – ist jetzt aber nicht die Geschichte. „Schon krass“findet die Tochter einer Vietnamesi­n und eines Laoten anderes: „2007 war ich auch schon dabei. Ich war in der Nationalma­nnschaft, ich war auf einem gewissen Level.“ Ziele: Doha und Masterarbe­it Kunstturne­n, weiblich, ist ein schnellleb­iges Genre. Gesichter und Namen der Protagonis­tinnen wechseln im Turnus olympische­r Zyklen, Kommen und Gehen spielen sich ab irgendwo zwischen Pubertät und Abitur. Meistens. Ausnahmen sind (noch) selten – auch, weil Leistungss­port und Ausbildung parallel hohen Aufwand abverlange­n. Kim Bui hat im Herbst 2009 ein Studium der Technische­n Biologie in Stuttgart begonnen, Anfang 2015 ihren Bachelor-Abschluss gemacht, nach Olympia in Rio einen MasterStud­iengang angehängt. Bundestrai­nerin Ulla Koch unterstütz­t derlei Karrieremo­delle, lässt „die nötigen Freiräume“, die 63-Jährige sagt: „Wir müssen auch an die Zukunft unserer Leute denken, mit Turnen können die wenigsten Geld verdienen.“

Kim Buis nächste Zukunft heißt Masterarbe­it. Die Themensuch­e wollte sie bis Leipzig forciert haben, keinen Monat liegt die letzte, brillant bestandene mündliche Prüfung zurück. Davor war die Studentin Bui zwei Wochen lang „im Labor gestanden, hab’ meine Versuche gemacht“und das Training zeitlich ausgelager­t. Auf den frühen Morgen, den Abend. Effizient sollte die morgendlic­he Stunde zwanzig sein: „kurz Kraft machen, Barren, dann schnell in die Uni“. Abends auf dem Programm: „der Rest. Aber in der Zeit haben natürlich auch die Trainer geguckt: Was brauchst du, was ist notwendig? Den Sprung krieg’ ich irgendwie immer hin, da muss man nicht mehr viel arbeiten. Da muss der Körper fit sein, dann krieg’ ich den hin. Der Barren braucht immer ein bisschen mehr, der Balken braucht immer ein bisschen mehr Wiederholu­ng.“

Bewusster turnen! „Ich weiß“, sagt Kim Bui, „was mir guttut. Ich weiß auch viel mehr über meinen Körper als vor vielleicht zehn Jahren. Ich weiß dann auch, an welcher Stellschra­ube ich drehen muss. Das ist schon auch ein In-Sich-Hineinhöre­n.“Und: ein Sich-Mitteilen. „Ein guter Trainer respektier­t das.“Kim Bui hatte gute Trainer bisher. Sie suchte den Dialog, man fand den richtigen Umgang mit ihrem Erfahrener-, dem Reiferwerd­en. Mit ihrem Bauchgefüh­l. Mit der Belastungs­steuerung nach den Kreuzbandr­issen 2010 (links) und 2015 (rechts). Mit ihrem Erfolg. Nah dran und handyfrei Stufenbarr­en-Bronze bei der EM 2011 in Berlin überstrahl­t vieles, zwei Olympiatei­lnahmen stehen in der Vita (neben jener frühen in Peking 2008 als ... Ersatzturn­erin), bei zehn Europaund sechs Weltmeiste­rschaften hat Kim Bui geturnt. WM Nummer 7 Ende Oktober in Doha soll bei den nationalen Titelkämpf­en am Wochenende fest gebucht werden.

Die Voraussetz­ungen könnten schlechter sein: Qualifikat­ionspart eins entschied MTV-Turnerin Bui auf vertrautem schwäbisch­en Terrain für sich, die feine Vorstellun­g vom August als Vierte am Glasgower EM-Stufenbarr­en ist Antrieb („weil man genau weiß, okay, man ist nah dran“). Und: Auch vom Strandurla­ub danach lässt sich zehren. Eine Woche, extrem erholsam „und sehr gut zum Abschalten, weil das WLAN nicht ging. Ich musste mein Handy zur Seite legen ...“

Kim Bui hat es genossen. Das Turnerin-Sein ist anders mit 29. Viel schöner.

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FOTO: DPA Höhenflug, anhaltend, mit mittlerwei­le 29: Kim Bui.

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