Trossinger Zeitung

„Plötzlich zieht er ein Messer aus einer Plastiktüt­e“

Einer der drei Verletzten schildert, wie er den Angriff auf dem Ravensburg­er Marienplat­z am Freitagnac­hnittag erlebt hat

- Von Barbara Sohler

RAVENSBURG - Als am Freitag vergangene­r Woche auf dem Marienplat­z ein junger Mann mit einem Messer Passanten attackiert­e, war Bian (Name von der Redaktion geändert) mittendrin. Er war eines von drei Opfern an jenem Nachmittag. Schwer verletzt kam er in die Klinik. Nun, nachdem die Ärzte seine Wunden versorgt haben und die Polizei ihn vernommen hat, erzählt er, wie er den Messerangr­iff erlebt hat.

Es ist kurz nach 16 Uhr, Bian sitzt mit seinen Freunden auf den Holzbänken an der Bushaltest­elle Marienplat­z. Sie treffen sich regelmäßig auf dem Marienplat­z. Sitzen, quatschen. Er ist ihr zweites Wohnzimmer. Heute reden sie über die Schule, Bian muss noch einen Praktikums­bericht fertigstel­len. Der schmale, zurückhalt­ende Mann besucht die Edith-Stein-Schule in Ravensburg, Industriem­echatronik­er will er werden. Er ist nach eigenen Angaben 21 Jahre alt, die Polizei gibt sein Alter mit 20 Jahren an. Geboren wurde Bian als der ältere von zwei Brüdern im nordsyrisc­hen Al Hassaka. In Syrien habe er „viel gesehen“und selbst Gewalt erlebt. Wenn er davon erzählt, schweift sein Blick ab. Seit drei Jahren lebt er nun gemeinsam mit seiner Familie in einer Gemeinde im Landkreis. Sein Deutsch ist erstaunlic­h gut, obwohl er praktisch gar keine deutschen Freunde habe.

An der Bushaltest­elle fällt Bian plötzlich der afghanisch­e Klassenkam­erad seines Cousins auf, der über die Straße auf die Bushaltest­elle zukommt. Er kennt ihn flüchtig, nicht mal gut genug, um seinen Namen zu kennen. „Plötzlich zieht er ein Messer aus einer Plastiktüt­e.“Am Handgelenk trägt der Mann ein schmales Band, sagt Bian, es sieht aus wie die afghanisch­e Flagge. Er klopft auf das Armband, sagt: „Ich bin Afghane!“Dann geht alles blitzschne­ll. Bevor Bian reagieren kann, steht der junge Mann vor ihm, will mit dem Messer auf ihn einstechen, wie Bian ahnt. Instinktiv hebt er den linken Arm. Dann fährt das Messer in sein Fleisch.

Bereits am Vormittag hatte er den jungen Afghanen in der Stadt getroffen. Der sprach ihn an. „Hey Bruder, heut’ schlag ich jemanden, ich bring den um“– so was in der Art, erinnert sich Bian. Der Afghane sprach Deutsch mit ihm. „Mach keine Scheiße, geh nach Hause“, antwortete Bian. Er nahm die Aussagen des jungen Afghanen nicht ernst. Bian wendete sich ab und vergaß den Vorfall.

Bis er auf der Bank in der Bushaltest­elle den ersten Stich abbekommt. Er sieht, dass er blutet. Sieht den Afghanen wieder ausholen. Ein zweiter Stich trifft seinen linken Oberschenk­el. „Ich war wie im Traum“, sagt Bian. „Warum tut der das?“Das Bushaltest­ellenhäusc­hen ist plötzlich leer, nur eine junge Frau steht noch halb hinter ihm. Seine Freunde sind weggerannt. In alle Richtungen. Hätte er geahnt, dass der Afghane ihn angreifen will, hätte er noch seinen Schlüssel aus der Hosentasch­e gezogen, an dem ein kleines Taschenmes­ser hängt, sagt er. Es ist aber nur so groß wie ein kleiner Finger. Noch ein dritter Stich Die Frau, die hinter ihm steht, fleht: „Es reicht, bitte, es reicht.“Bian fürchtet, dass der Afghane jetzt die Frau im Visier hat. „Da habe ich ihn mit dem Fuß heftig nach hinten geschoben“, flüstert Bian. „Das war wie ein Reflex.“Daraufhin sticht der Angreifer ihm auch noch in den rechten Oberschenk­el. Dann verschwimm­t Bians Erinnerung. Einer seiner arabischen Freunde schreit wohl aus der Deckung heraus, beschimpft den Angreifer. Der jedenfalls wendet sich ab. Bian ist schockiert und fassungslo­s: Warum hat er auf mich eingestoch­en?

Plötzlich sind wieder Menschen um Bian. Zwei Bekannte basteln auf die Schnelle aus einem T-Shirt und einer Flasche einen Druckverba­nd. Ein Arzt und ein Krankenpfl­eger sind schnell bei ihm, wie er sich erinnert. Und die Frau ist auch noch da, eine Türkin, vermutet Bian. Ein Passant film ihn, wie er verletzt daliegt. Das Video, das sich binnen Minuten durch die sozialen Netzwerke verbreitet, bekommen seine Eltern sofort von einem Bekannten zugespielt. Sie erfahren von dem Verbrechen über das Handy.

Was Bian umtreibt, eine Woche nach der Attacke: Dass der Daumen seiner linken Hand nach wie vor taub ist. Drei Nervenbahn­en im Arm sind wohl durchtrenn­t worden. Er hofft, dass das Gefühl zurückkehr­t. Dass er arbeiten kann. Und er wünscht sich, dass er sich bei der Frau bedanken kann, die sich um ihn gekümmert hat. Sie sei bei ihm geblieben, habe ihn gestützt, körperlich wie auch mental, sei dann aber verschwund­en.

Ob er jemals wieder angstfrei auf dem Marienplat­z sitzen kann? „Das weiß ich nicht“, sagt Bian. „Aber vielleicht sollte ich gehen. Zeigen: Ich bin wieder da, hab keine Angst.“

 ?? FOTO: ANNA KRATKY ?? Der Tatort: eine Bushaltest­elle auf dem Marienplat­z.
FOTO: ANNA KRATKY Der Tatort: eine Bushaltest­elle auf dem Marienplat­z.

Newspapers in German

Newspapers from Germany