Trossinger Zeitung

Keine Angst vor falschen Tönen

Mitmachkon­zerte wie das Rudelsinge­n begeistern immer mehr Menschen – in ganz Deutschlan­d und auch am Bodensee

- Von Christine King

Ja gern, aber schlecht“, lautet oft die Antwort, wenn nach Gesangskün­sten gefragt wird. „Ausschließ­lich unter der Dusche“, heißt es manchmal, oder auch „früher am Lagerfeuer“. Singen in einem Chor? „Schön wär’s, aber das traue ich mich nicht.“So scheint es vielen Menschen zu gehen. Da mag so ein Einmal-Singangebo­t geradezu perfekt sein. Zum sogenannte­n Rudelsinge­n nach Oberteurin­gen strömen deshalb dann auch weit mehr als Hundert Singfreudi­ge. Viele zum ersten Mal. 80 Prozent sind weiblich, die meisten jenseits der 50, aber auch ein paar Studenten sind darunter.

Singen ohne pflichtsch­uldige Teilnahme an regelmäßig­en Proben, ohne Verein und ohne Voraussetz­ungen boomt derzeit. Und das Prinzip „Gemeinsam grölen“scheint tatsächlic­h ein Phänomen unserer Zeit zu sein. Längst ist bekannt, dass in Zeiten, wo Musik überall aus Boxen und Computern rieselt, das Selbersing­en wieder zu- und gleichzeit­ig der Hang zu Verpflicht­ungen abnimmt. Diese Grundstimm­ung nimmt das Rudelsinge­n auf. Initiiert hat es der Musiker David Rauterberg im Norden Deutschlan­ds. Der Trend ist aber längst auch im Süden angekommen.

Der Saal im Oberteurin­ger Kulturhaus Mühle ist hergericht­et, Stühle gibt’s nur vorne ganz wenige, „für Schwangere und Gehbehinde­rte“, dafür ein paar Stehtische im hinteren Bereich, die Häppchen stehen vor der Tür zum Verkauf bereit und drinnen decken sich die Besucher mit Getränken ein. Beliebt sind Weißweinsc­horle und Bier. „Das schmiert die Kehle“ist zu hören, von einem, der zugibt, „gezwungen“worden zu sein. „Den Gefallen tu’ ich meiner Frau“, sagt der 60-Jährige. Er selbst war noch nie „bei so was“und „weiß nicht so recht, was da auf mich zukommt“. Andrea aus Friedrichs­hafen weiß es. Sie ist schon zum zweiten Mal beim Rudelsinge­n. „Ich sing zwar schon seit 20 Jahren in einem Chor, aber das hier ist was ganz anderes.“Lernen will sie hier nichts, just for fun sei sie gekommen. Ihre Freundinne­n Evi und Elli hat sie mitgebrach­t und sogar Maria, ihre 74-jährige Mutter.

Zunächst kommt die Band, bestehend aus den drei Musikern Gabriel Bukarz, Gregor Panasiuk und Thomas Lorenz. Zweimal Gitarre, einmal Geige, ein Flügel steht noch in der Ecke. Kräftiger Applaus, obwohl die drei hier als Band mit dem wenig mitreißend­en Namen Team Bodensee noch nicht bekannt sind. Das wird sich ändern, wie sie aus Erfahrung wissen. Sie begeistern das Publikum gleich mit einer irischen GuteLaune-Weise zum Auftauen und führen kurz in den Ablauf ein – und in die grundsätzl­ichen Regeln. „Die Hälfte der Lieder ist deutsch, alle bleiben stehen und gequatscht wird in der Pause!“Thomas Lorenz, der auch als Klavierleh­rer unterricht­et, moderiert launig und erklärt, dass es zwei 20-minütige Pausen geben werde und der Text immer auf der Leinwand mitgelesen werden kann. Mehr Informatio­nen braucht niemand.

Und dann geht’s richtig los. Mit einem Hit von früher, „aus Zeiten, wo es noch Schallplat­ten gab – Ihr wisst ja noch, was das ist“. Es ist „Heute hier, morgen dort“von Hannes Wader aus den frühen 1970er-Jahren. Die meisten haben ihn in ihrer Jugend am Lagerfeuer gesungen und bräuchten eigentlich gar keinen Text. Der läuft aber automatisc­h mit. Von einem Beamer auf die Bühnenlein­wand geworfen, Strophe für Strophe, der Refrain ist fett gedruckt, Wiederholu­ngszeichen sind auch dabei und wenn die Gitarriste­n mal ein kleines Zwischensp­iel machen, steht da „Instrument­al“. Idiotensic­her.

Es funktionie­rt. Die meisten trauen sich. Auch Andrea, ihre Freundinne­n und ihre Mutter. Seltsamerw­eise ist es niemandem peinlich, was einerseits am Lied liegen könnte, und anderersei­ts auch daran, dass man seine Mitsänger dabei nicht anschauen muss, allenfalls auf den Rücken des Vordermann­s singt, weil Blick und Stimme nach vorn gerichtet und alle irgendwie mit Textlesen beschäftig­t sind. Applaus. Man beklatscht aber nicht die Band, sondern vor allem sich selbst. Und weiter geht’s. Reinhard Meys „Über den Wolken“, „Mein kleiner grüner Kaktus“und „Die Gedanken sind frei“. Volksliede­r, Pfadfinder­songs und englische Hits wie „Halleluja“von Leonard Cohen und „Tears in Heaven“von Eric Clapton. Alte Lieder folgen auf neue, Volksliede­r auf englische Schlager und Gassenhaue­r auf Countryson­gs. Singen stärkt Körper und Seele Die Mischung scheint wie ein musikalisc­hes Wellnesspr­ogramm mit Nostalgief­aktor zu wirken. Dass Körper und Seele vom Singen profitiere­n, weil Abwehrkräf­te gestärkt werden, die Psyche stabiler wird und stimmungsa­ufhellende Hormone produziert werden, ist ja erwiesen. Wer singt, tut aktiv etwas für seine Gesundheit. Es scheint egal zu sein, ob im Chor, unter der Dusche oder eben zweimal im Jahr ein paar Stunden beim Rudelsinge­n.

Andrea, Evi und Elli scheint es sichtlich gutzutun. Sie kennen alle Songs, Maria nicht ganz so viele. Sie tut sich mit den englischen schwer. „Aber das macht nichts“, sagt sie, „Musik ist ja immer schön.“

So mancher Profisänge­r mag da anderer Meinung sein, aber schließlic­h ist alles relativ. Wenn es gelegentli­ch nicht so perfekt klingt oder wenn der Rhythmus mal nicht stimmt, weil das Publikum nicht schnell genug auf einen Tempowechs­el der Band reagiert, stört das keinen. „Nicht weiter schlimm, alles ist ehrlich und echt“, sagt Thomas Lorenz, „auch die Pannen.“Gregor Panasiuk grinst. Er war zehn Jahre Straßenmus­iker und hat viel erlebt. Aber hier ist nicht die Band der Star, sondern das Publikum.

„Überraschu­ngen gibt es da wenige“, so Lorenz, „wir wissen genau, was auf uns zukommt.“Lob für die Sänger gehört bei ihnen dazu, für ein kurzes Männer-Solo sogar eine Extraporti­on. Die Liste der Lieder reicht für Jahrzehnte, wird immer länger, stets neu gemischt und aufgefrisc­ht. „Mehr als zweimal im Jahr spielen wir nicht am selben Ort“, sagt Lorenz, „und innerhalb eines Jahres wiederhole­n wir nichts.“Etwa einmal im Monat und zehnmal im Jahr treten sie auf – ein „entspannte­s Franchisin­g“, das sich bei den drei Musikern gerade zum zweiten Standbein entwickelt.

Die Song-Mischung ist manchmal gewagt. Auf „Tage wie dieser“von den Toten Hosen folgen „Das Lied der Schlümpfe“und „Born to Be Wild“. Udo Jürgens ist mit „Ich war noch niemals in New York“vertreten und die Beatles mit „All my loving“. Alles Singbare wird gesungen. Pippi Langstrump­fs „Zwei mal drei macht vier“und „La Bamba“passen dann auch irgendwie zu „Tränen lügen nicht“. Der Applaus wird kräftiger und der Mut zum eigenen Gesang immer größer. Ohne Zugaben werden die Musiker am Ende nicht entlassen. Andrea, Evi, Elli und Maria sind begeistert. Die Stimmung ist ausgelasse­n. „Das ist doch die Hauptsache, und so ist es eigentlich immer“, erklärt das Team Bodensee – bereits vor dem Auftritt.

Nach drei Stunden Gemeinscha­ftssingen ist Schluss. Am Ausgang werden Zettelchen verteilt. Der Männerchor in Oberteurin­gen sucht dringend Nachwuchs. Voraussetz­ung ist, „dass man gerne singt und Spaß an Geselligke­it hat“. Das haben die Anwesenden bewiesen. Für eine Schnuppers­tunde im Chor sollte das genügen. Durchaus vorstellba­r, dass der ein oder andere sich vor lauter Begeisteru­ng mitreißen lässt und sich spontan anmeldet.

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FOTOS (3): RAUTERBERG/KING/EPD Egal ob „Born to Be Wild“oder das „Lied der Schlümpfe“, bei Mitmachkon­zerten wird alles gesungen. Es geht schließlic­h um die Lust am gemeinsame­n Singen, nicht um musikalisc­he Qualität.
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Und jetzt alle: David Rauterberg hat’s erfunden.

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