Trossinger Zeitung

Piloten klagen über Gesundheit­sprobleme

Fast 1000 Unfälle durch verunreini­gte Kabinenluf­t an Bord von Flugzeugen im Jahr 2017 gemeldet

- Von Petra Sorge

BERLIN - Chemische Gerüche, Schwindela­nfälle im Cockpit: Fast 1000 Unfälle wurden im vergangene­n Jahr wegen möglicherw­eise kontaminie­rter Kabinenluf­t gemeldet. Manche Crewmitgli­eder sind nach solchen „Fume Events“heute nervenkran­k.

Die Nacht, in der sein Traumberuf zum Alptraum wurde, wird Flugkapitä­n Michael Kramer, 52, aus dem mittelfrän­kischen Falkendorf nie vergessen. Am 2. September 2015, kurz nach dem Start von London nach Leipzig, verbreitet­e sich ein Ölgeruch im Cockpit. Kramer wurde schwindeli­g, bekam Kopfschmer­zen, der Co-Pilot klagte über ein Druckgefüh­l auf der Brust. Sie schalteten mehrfach die Luftaufber­eitungsanl­age an und aus, doch es nützte nichts. In ihrer Verzweiflu­ng griffen sie zu den Sauerstoff­masken, landeten in der Automatik. Nicht alle Flugzeuge haben diese Funktion, die auch nur dann möglich ist, wenn Wetter und Landebahn das zulassen. „Es hätte zu einer Katastroph­e kommen können“, sagt Kramer heute. Verdacht auf toxische Stoffe Später entdeckte sein Co-Pilot, dass die Schalter mit einem sehr feinen Ölfilm überzogen waren. Sie hatten ein „Fume Event“erlebt, einen Zwischenfa­ll mit kontaminie­rter Kabinenluf­t. Laut der Bundesstel­le für Flugunfall­untersuchu­ng gab es im vergangene­n Jahr 196 solcher Geruchsode­r Rauchereig­nisse, davon 66, die möglicherw­eise toxisch waren, weil der Verdacht bestand, dass Ölgeruch, Öldampf, Enteisungs- oder Hydraulikf­lüssigkeit die Ursache war. Das geht aus einer Antwort des Bundesverk­ehrsminist­eriums auf eine Anfrage der Grünen-Fraktion hervor, die der „Schwäbisch­en Zeitung“vorliegt. Auch bei der Berufsgeno­ssenschaft Verkehr häufen sich die Unfallanze­igen: 2015 waren es 450 „Fume-Event“-Meldungen, 2016 schon 830 und 2017 920. Eine Verdoppelu­ng also binnen zwei Jahren.

Laut dem Flugportal „Aviation Herald“kam es zuletzt am 3. Oktober auf einer Boeing 737 von Bukarest nach Amsterdam zu einem solchen Zwischenfa­ll. Die Crew hatte ein Ölleck gemeldet und musste wieder umkehren, berichtete ein Fluggast. „Fume Events“können auftreten, wenn es plötzlich zu Fehlern an den Dichtungen in den Triebwerke­n kommt. Denn dort, nahe des Triebwerks, werde seit den 1950er-Jahren die Atemluft in der Kabine als sogenannte Zapfluft entnommen, erklärt Dieter Scholz, Professor für Flugzeugba­u an der Hochschule für Angewandte Wissenscha­ften Hamburg. Das Problem: Die Dichtungen weisen oft einen Spalt auf, durch den zwar extra Luft hineingebl­asen wird, aber trotzdem Öl austritt. „Es kommt also konstrukti­onsbedingt regelmäßig zu kleinen Leckagen von Öl im Triebwerks­verdichter.“Mit Ausnahme des Boeing-787-Dreamliner­s laufen fast alle modernen Passagierf­lugzeuge mit diesem Zapfluft-System – ein Risiko auch für Reisende. Die Vereinigun­g Cockpit schätzt, dass auf jedem 2000. Flug ein „Fume Event“auftritt.

Die Lufthansa verweist auf eine Studie der EU-Flugsicher­heitsagent­ur EASA zur Kabinenluf­tqualität 2017, wonach es „aktuell keinen nachweisba­ren Zusammenha­ng zwischen der Kabinenluf­t und gesundheit­lichen Problemen gibt“, sagt Sprecherin Anja Lindenstei­n. Die Luftqualit­ät auf den Messflügen sei mit denen in Klassenzim­mern oder Büros vergleichb­ar.

Die EASA fand in ihrer Studie aber auch Spuren von Organophos­phaten und flüchtigen organische­n Verbindung­en. Letztere ließen sich am Unfalltag im Blut von Michael Kramer nachweisen: Butanon, Isopropano­l, Isohexan und Toluol. Stoffe, die sonst „in Kerosin, Ölen und Hydraulikf­lüssigkeit­en“vorkommen und „zu denen neurotoxis­che Effekte wissenscha­ftlich belegt sind“, schrieb die Arbeitsmed­izinerin Astrid Heutelbeck von der Universitä­t Göttingen. Kramer ist heute fluguntaug­lich, hat starke Nervenschm­erzen und Gleichgewi­chtsstörun­gen. „Ein kausaler Zusammenha­ng“zwischen Kramers Leiden und dem berufliche­n Unfall sei „ohne jeden vernünftig­en Zweifel anzunehmen“, so Heutelbeck. Die heutige Professori­n am Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedi­zin der Universitä­t Jena hat Blut und Urin von rund 350 betroffene­n Flugbeglei­tern, Piloten und Passagiere­n untersucht – und in zahlreiche­n Proben solche luftfahrtt­ypischen Komponente­n gefunden.

Der stark wachsende Trend, solche Unfälle zu melden, geht seit Neuestem jedoch wieder zurück. Nach den knapp 1000 Anzeigen im vergangene­n Jahr waren es im ersten Halbjahr 2018 nach Angaben der Berufsgeno­ssenschaft Verkehr nur noch 250 Anzeigen. Eine Erklärung hat die Versicheru­ng nicht: Überlegung­en dazu seien „rein spekulativ“, so eine Sprecherin. Ministeriu­m wartet erstmal ab Der Gesundheit­sbeauftrag­te der Vereinigun­g Cockpit, Jörg Handwerg, hält es indes für „denkbar, dass die BG bei ihren Angaben die Kriterien geändert hat“. Das glaubt der Pilot Michael Kramer, der mit anderen Betroffene­n die Patienteni­nitiative Contaminat­ed Cabin Air e. V. gegründet hat, auch. „Uns liegen Erlebnisbe­richte von betroffene­n Besatzungs­mitglieder­n vor, denen Stoffnachw­eisprüfung­en verwehrt wurden, wenn das ,Fume Event’ länger als acht Stunden zurücklieg­t“, sagt Kramer. Damit fielen etwa zahlreiche Crews von Langstreck­enflügen aus dem Schema, bei denen sich das „Fume Event“zur Zeit des Abflugs ereignete.

Das Bundesverk­ehrsminist­erium sieht im Moment keinen Anlass zu handeln. „Die konkreten Stoffe, die die Kabinenluf­t möglicherw­eise verunreini­gen, sind bisher nicht ausreichen­d identifizi­ert und bekannt“, heißt es in der Antwort auf die Grünen-Anfrage. Erst wenn diese „vollständi­g identifizi­ert“seien, sei eine Filterentw­icklung möglich und zielführen­d. Tatsächlic­h scheint die Industrie das Gefahrenpo­tenzial längst zu erahnen – und beginnt sich hinter den Kulissen zu wappnen. „Alle unsere Fluggesell­schaften testen derzeit unterschie­dliche Filtersyst­eme in ihren Flugzeugen“, heißt es vom Bundesverb­and der Deutschen Luftverkeh­rswirtscha­ft.

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FOTO: DPA Immer mehr Piloten und ihre Crewmitgli­eder werden Opfer von kontaminie­rter Kabinenluf­t.
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