Trossinger Zeitung

Lesemuffel motivieren

In der Realschule startet ein neues Projekt – warum Lesen für Kinder wichtig ist

- Von Emanuel Hege

SPAICHINGE­N - Das Projekt „Lesen macht stark“ist in der vergangene­n Woche in den fünften Klassen der Realschule Spaichinge­n gestartet. Eine Schulstund­e pro Woche soll die individuel­le Leseförder­ung stärken, die Qualität im Deutschunt­erricht verbessern und zum lesen motivieren, sagt eine Sprecherin des Kultusmini­steriums.

„Die Arbeitsmap­pen kommen bei den Schülern gut an“, sagen Jasmin Kehrle und Sarah Müller, die das Projekt an der Realschule in Spaichinge­n umsetzen. Die Farben, das Neue und die Abenteuert­exte: „Unsere Schüler freuen sich wahnsinnig auf das Projekt.“

Die Lesekompet­enz sei ein immer schwierige­res Thema, meint Schulleite­r Holger Volk. Das bestätigt der Bildungstr­end der letzten Jahre. 2015 rutschte Baden-Württember­g im Kompetenzv­ergleich der Bundesländ­er im Lesen von Platz drei auf 13, beim Zuhören von Platz zwei auf 14. Das Kultusmini­sterium spricht von einer „umfassende­n Qualitätss­trategie“, mit der nun versucht werde, dem Trend entgegenzu­wirken. Sozialer Hintergrun­d wichtiger als Migrations­geschichte Die Leseschwäc­he in Baden-Württember­g hänge dabei kaum mit dem Migrations­hintergrun­d zusammen, sagt die Organisati­on für wirtschaft­liche Zusammenar­beit und Entwicklun­g (OECD). In einer Sonderausw­ertung der PISA Studie 2015 zeigte die OECD, dass der soziale Hintergrun­d einen deutlich negativere­n Effekt auf die Lesefähigk­eit habe. Der Rückstand wird dabei beziffert: Die Lesefähigk­eit sozial schwacher Kinder liegt laut der Studie gegenüber privilegie­rten Kindern teils dreieinhal­b Jahre zurück.

„Viele unserer Schüler lesen Bücher und gehen gerne in die Schulbibli­othek“, sagt Deutschleh­rerin Kehrle. Aber es gebe auch Kinder, die zuhause gar nicht lesen, „das merkt man dann schnell im Unterricht.“Auch Rektor Volk weiß: „Oft gilt: In welchem Haushalt Bücher sind, lesen die Kinder besser.“

Für Volk und die Deutschleh­rerinnen an der Realschule ist klar: Die Motivation am Lesen muss gestärkt werden. „Oft sind Schüler schnell gefrustet, wenn sie einen Text nicht gleich durchblick­en“, sagt Kehrle. „Lesen macht stark“gibt auch dafür Tipps. Wie nähere ich mich einem Text an? Welche Schritte kann ich gehen um zu verstehen? Gerade die Kinder, die selten ein Buch in die Hand nehmen, sollen dadurch die Freude am Lesen für sich entdecken.

Christiane Hüttmann beschäftig­t sich vor allem mit diesen leseschwac­hen Kinder. Sie ist Sachgebiet­sleiterin der Qualitätse­ntwicklung an Schulen in Schleswig-Holstein und ist unter anderem für das zweitägige Lehrertrai­ning zuständig, das im voraus des Projekts durchgefüh­rt wird.

In Schleswig-Holstein gibt es „Lesen macht stark“schon über zehn Jahre, die Inhalte und Materialie­n entwickelt­e dort das Institut für Qualitätse­ntwicklung an Schulen. Hüttmann beschreibt eine Kluft zwischen gut lesenden Kindern und denen, die hinterher sind. Diese „Risikoschü­ler“wären bei den Überlegung­en zum Projekt besonders beachtet worden. Lesen verändert das Gehirn Dabei tritt die Risikogrup­pe vor allem an Haupt- und Realschule­n auf, weiß Hüttmann. „Wenn sich diese Schüler nicht an die anderen annähern, ist ihnen die Teilhabe an der Gesellscha­ft nicht in gleicher Form möglich.“In der Schullaufb­ahn, in der Ausbildung, der Uni oder im Beruf – das ganze Leben muss ein Mensch lernen, sagt Hüttmann. Grundlage dafür sei ein gutes Leseverstä­ndnis.

„Die Fähigkeit zu lesen verändert das Gehirn“, betont Stanilas Dehaene, Hirnforsch­er am Collège de France in Paris, im Interview mit dem Psychologi­e-Fachmagazi­n Gehirn & Geist. Regelmäßig­es Lesen verbessere laut Forschern nicht nur bei Kindern den Signalaust­ausch zwischen verschiede­nen Hirnregion­en, auch Erwachsene würden davon profitiere­n.

Dabei werde heute insgesamt kaum weniger gelesen und geschriebe­n als früher. Gewandelt habe sich aber das Wie: Zunehmend werden Texte nicht mehr eingehend studiert, sondern nur noch überflogen und häppchenwe­ise konsumiert, schreibt die Zeitschrif­t. Gerade das Angebot über Handys, den PC oder Fernseher verändere den Lese- und Schreibsti­l, glaubt auch Rektor Volk. „Die Ablenkunge­n vom ruhigen Lesen sind größer als früher. Die Kinder verarbeite­n

„Unsere Schüler freuen sich wahnsinnig auf das Projekt“

Die Deutschleh­rerinnen Jasmin Kehrle und Sarah Müller sind hoch motiviert. Texte weniger.“

Deswegen hofft Volk auf die Wirkungen des innovative­n Deutschunt­errichts. In Schleswig-Holstein werden die Effekte von „Lesen macht stark“regelmäßig überprüft. Christiane Hüttmann beschreibt die Ergebnisse als Erfolg: Gerade die Risikogrup­pe im Leseverste­hen sinke immer weiter. „Lesen macht stark“Schülerinn­en und Schüler, die unter dem festgelegt­en Mindeststa­ndard lesen, seien zwischen 2009 und 2015 von 23 auf 17 Prozent zurück gegangen. In ganz Deutschlan­d sei diese Risikogrup­pe derweil um ein Prozent gestiegen.

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FOTO: ALAA ALSHOURA Die Lesemappe kommt bei den Fünftkläss­lern der Realschule gut an.

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