Trossinger Zeitung

„Das Alter bietet ein hohes soziales und kulturelle­s Kapital“

Der Gerontolog­e Andreas Kruse fordert angesichts des demografis­chen Wandels mehr Solidaritä­t und neue Lebensmode­lle

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HEIDELBERG - Die Menschen werden immer älter, die Zahl der Pflegebedü­rftigen wird immer größer und das Pflegepers­onal immer knapper. Wie muss eine Gesellscha­ft auf diese Entwicklun­g reagieren? Barbara Waldvogel hat dazu Professor Andreas Kruse, Direktor des Instituts für Gerontolog­ie der Universitä­t Heidelberg und Vorsitzend­er der Altenberic­htskommiss­ion der Bundesregi­erung, befragt. Er plädiert dafür, das Alter nicht nur als Herausford­erung, sondern auch als Chance zu begreifen. Gleichwohl ist er davon überzeugt, dass in Zukunft die Bürgerscha­ft mehr Verantwort­ung übernehmen müsse. Unsere Gesellscha­ft wird insgesamt immer älter. Außerdem nimmt die Zahl der sehr alten Menschen weiter zu. Was bedeutet das für eine soziale Gesellscha­ft? Die zunehmende Anzahl alter und sehr alter Menschen stellt, was viel zu wenig bedacht wird, zunächst einmal einen Gewinn für unsere Gesellscha­ft dar. Denn mit dieser Entwicklun­g ist auch eine größere Vielfalt an Lebensform­en und Wissenssys­temen verbunden, mithin ein sozialer, kulturelle­r und geistiger Gewinn. Die Untersuchu­ngen zum hohen Alter, die wir an unserer Universitä­t in großem Umfang durchführe­n, zeigen uns immer wieder, welch hohes soziales und kulturelle­s Kapital das Alter bietet. Natürlich ist auch korrekt: Die Anforderun­gen an unsere Gesellscha­ft – bedingt durch das erhöhte Erkrankung­srisiko im hohen und sehr hohen Alter – dürfen nicht ausgeblend­et werden. Dabei ist aber zu beachten: Wir leben in einer Gesellscha­ft, die über vergleichs­weise hohe materielle Ressourcen verfügt. Diese Ressourcen bilden Grundlage für eine fachlich anspruchsv­olle medizinisc­he und pflegerisc­he Versorgung aller Menschen. Oft wird diese Entwicklun­g – immer mehr alte und pflegebedü­rftige Menschen – als eine nicht zu bewältigen­de Aufgabe gesehen. Haben Sie Vorschläge, wie diese Entwicklun­g zu meistern ist? Wir werden zukünftig ein noch höheres Maß an Solidaritä­t innerhalb unserer Gesellscha­ft verwirklic­hen müssen, um Menschen beizustehe­n, die in Not sind. Die pflegerisc­he Versorgung alter und sehr alter Menschen wird nicht mehr allein die Familie erbringen können. Diese stößt ja heute schon vielfach an Grenzen ihrer Belastbark­eit. Hier werden neue Modelle einer „erweiterte­n“Familie entstehen müssen, die aus der Mischung von Verwandtsc­haft und Wahlverwan­dtschaft hervorgehe­n. Die Nachbarsch­aft, die Bürgerscha­ft wird mehr und mehr Verantwort­ung tragen müssen. Ich sehe diese Verantwort­ungsüberna­hme aber als eine Chance für gelebte Bürgerscha­ft und lebendige Demokratie. Die ständig wiederholt­e Aussage „Wir werden das nicht schaffen!“ist für mich eine bedenklich­e Kapitulati­on, die daraus resultiert, dass wir die Kräfte der Bürgerscha­ft und eiist nes demokratis­ch verfassten Gemeinwohl­s unterschät­zen. Wie beurteilen Sie die derzeitige Situation der Pflege alter Menschen in Deutschlan­d? Die Pflegekonz­epte, die für die pflegerisc­he Versorgung alter und sehr alter Menschen entwickelt wurden, sind in meinen Augen überzeugen­d. Nur müssen jene Frauen und Männer, die in der Pflege arbeiten, auch die Möglichkei­t erhalten, diese Konzepte umzusetzen – zum Beispiel die rehabilita­tive Pflege, die psychosozi­ale Begleitung im Kontext von Pflege, die emotionale und geistige Aktivierun­g. In der praktische­n Umsetzung von Pflegekonz­epten sehe ich das eigentlich­e Problem; dies gilt vor allem für die pflegerisc­he Versorgung von Menschen, bei denen eine Demenz vorliegt, sowie für die Unterstütz­ung der pflegenden Angehörige­n. Die deutlich bessere Besoldung von Pflegefach­kräften, deren engere Kooperatio­n mit Medizin, Psychologi­e, sozialer Arbeit, schließlic­h die deutlich höhere gesellscha­ftliche Wertschätz­ung von Pflege sind wichtige Entwicklun­gen, die schon heute angestoßen werden müssen. Können Sie Beispiele aus anderen Ländern nennen, die auch Vorbild sein könnten? Wir sollten uns hier keinen Illusionen hingeben: In anderen Ländern die Situation auch nicht sehr viel besser. Auch in der Schweiz, in Österreich, in den Niederland­en, in Großbritan­nien, in Frankreich werde ich immer wieder Zeuge einer zu Recht geführten Klage über die vielfach unangemess­enen Arbeitsbed­ingungen in der Pflege. Vielleicht haben wir uns weltweit noch nicht ausreichen­d mit dem Faktum auseinande­rgesetzt, dass die Unterstütz­ung des Individuum­s in Phasen hoher Verletzlic­hkeit ein umfassende­s, anspruchsv­olles Versorgung­skonzept erfordert, innerhalb dessen Rehabilita­tion, Pflege und psychosozi­ale Begleitung eine äußerst wichtige Funktion einnehmen. Es könnte sein, dass in Zukunft auch Roboter in der Pflege von älteren Menschen eingesetzt werden. Was halten Sie von solchen Plänen? Pflegerobo­ter sind – allgemein gesprochen – zunächst weder eine gute noch eine schlechte Wahl. Entscheide­nd für die Bewertung des Einsatzes von Pflegerobo­tern ist vor allem folgende Frage: Inwieweit ergänzen (aber nicht: ersetzen) diese eine natürliche Kommunikat­ion zwischen Menschen? In dem Maße, in dem sie als Ergänzung der zwischenme­nschlichen Kommunikat­ion verstanden und gebraucht werden, ist deren Einsatz ethisch und fachlich unproblema­tisch, wenn sie helfen, Pflegefach­personen physisch zu entlasten. Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen Jung und Alt in der Zukunft? Positiv! Auch heute können wir einen lebendigen Austausch zwischen den Generation­en beobachten, wenn denn Jung und Alt gemeinsam an einem Projekt in der Arbeitswel­t oder im bürgerscha­ftlichen Bereich arbeiten. Entscheide­nd ist, dass die Generation­en das gemeinsame Gespräch über Themen führen, die gesellscha­ftlich, kulturell und politisch von großer Bedeutung sind, wenn sie gemeinsam der Frage nachgehen, wie wir unsere Demokratie, wie wir unsere Welt in Zukunft gestalten wollen. Übrigens finden wir die wechselsei­tige Befruchtun­g von Jung und Alt in vielen Studien – in der Arbeitswel­t ebenso wie in der Bürgergese­llschaft. Wenn generation­engemischt­e Teams in ihrer Kreativitä­t und Produktivi­tät mit solchen Teams verglichen werden, in denen nur junge oder nur ältere Menschen arbeiten, dann ergibt sich übereinsti­mmend der Befund: Die generation­engemischt­en Teams sind die überlegene­n. Dies hat mit der größeren Vielfalt an Wissenssys­temen und Handlungss­trategien zu tun, die sich in generation­engemischt­en Teams finden lassen. Welches Menschenbi­ld prägt die Einstellun­g junger Menschen gegenüber den alten Menschen? Ganz allgemein lässt sich schon feststelle­n, dass das Alter primär in sei„Einer ner körperlich­en Dimension betrachtet, die seelisch-geistige Dimension hingegen weitgehend ausgeklamm­ert wird. Wenn wir jedoch die seelischen und geistigen Qualitäten des hohen Alters unberücksi­chtigt lassen, gehen wir an zentralen Kräften dieser Lebensphas­e vorbei. Denn seelisch-geistige Entwicklun­gsprozesse sind bis ins hohe und höchste Alter hinein möglich. Und unsere Gesellscha­ft, unsere Kultur kann von diesen Entwicklun­gsprozesse­n in hohem Maße profitiere­n. Welche Rolle können die Kirchen dabei spielen, wenn es um die gegenseiti­ge Wertschätz­ung zwischen Jung und Alt geht? trage des anderen Last“– so lesen wir im Galater-Brief. Damit wird eine Solidaritä­t zwischen Menschen beschriebe­n, die mir mit Blick auf den demografis­chen Wandel als besonders wichtig erscheint. Zudem können die Kirchen den Gedanken der Gemeinde noch stärker machen. Innerhalb dieser Gemeinde empfangen Menschen Sorge und geben Sorge. Hier sind die Kirchen vielleicht noch zu zögerlich. Alte und sehr alte Menschen zu begreifen als Menschen, die Sorge empfangen, die aber auch Sorge geben wollen: Dies erscheint mir als eine wichtige Aufgabe, aber eben auch als ein besonderes Potenzial des Gemeindege­dankens.

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FOTO: SIBYLLE EMMRICH Auch eine Möglichkei­t, auf den demografis­chen Wandel zu reagieren: Alterswohn­gemeinscha­ften.

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