Auch der Alltag sät Unfrieden
Gedenken zum 9. November beleuchtet das Thema Frieden in einem umfassenden Sinn
SPAICHINGEN - Es ist eine Zeit, in der viele Menschen sich bedrängt fühlen, bedrückt – im Unfrieden. Auch mit den Anforderungen, die diese Zeit und das Leben an sie stellen. Unfrieden und die Sehnsucht nach Frieden in einem ganz umfassenden Sinn haben bei der diesjährigen Gedenkfeier zum 9. November mit rund 70 Teilnehmern im Mittelpunkt gestanden.
Es war eine ökumenische Feier der evangelischen und katholischen Kirchengemeinde, die Moschee war diesmal nicht einbezogen - auch, weil das Interesse der dortigen Gemeinde jenseits des Sprechers in den vergangenen Jahren sehr gering war. Aber auch, weil diesmal ein zusätzlicher feierlicher Anlass hinzu gekommen war: Die Initiative KZGedenken beziehungsweise das Vorstandsmitglied des Gedenkstättenverbunds, Albrecht Dapp, enthüllte die Tafel des Europäischen Kulturerbesiegels. Dieses war 2018 den 14 Gedenkstätten des KZ-Komplexes Natzweiler-Struthof verliehen worden. Auf Deutsch, Englisch, Französisch und Polnisch wird nun auch auf die Friedensarbeit der Gedenkstätten im europäischen Kontext durch diese Tafel am Martin-Luther-Haus hingewiesen. Dort im Bereich des Post- und Rathausparkplatzes haben von August 1944 bis April 1945 die Baracken des KZ gestanden. Hier waren Männer aus ganz Europa gequält worden. Die Gedenkarbeit geschehe im Sinne Humboldts: „Nur, wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft“, zitierte Dapp.
Aber der 9. November erinnert nicht nur an den Auftakt zum Horror des Holocausts in der Reichspogromnacht 1938, wie Wolfgang Schmid in einer kurzen Einführung bemerkte, als tausende Geschäfte geplündert wurden und Synagogen brannten. Am 9. November 1918 endete der erste Weltkrieg, Scheidemann rief die erste Republik auf deutschem Boden aus.
Am 8. November 1923 inszenierte Adolf Hitler als Reaktion auf die Kapitualtion, im Versuch, die Reichsregierung zu stürzen, den Marsch auf Berlin; am 8. auf den 9. November versuchte im Münchener Bürgerbräukeller der schwäbische Widerstandskämpfer Georg Elser Adolf Hitler bei der alljährlichen Gedenkveranstaltung nach dem „Hitlerputsch“in die Luft zu sprengen, was nur misslang, weil der Diktator den Ort vorzeitig verlassen hatte. Und an jenem „Schicksalstag der Deutschen“1989 schließlich fiel die Berliner Mauer.
Unfriede liegt aber auch in der Bedrängnis, kein Dach über dem Kopf zu haben, weil es keinen passenden, keinen bezahlbaren Wohnraum gibt und Suchende immer wieder vor einem „Nein“stehen. Unfriede und Unsicherheit in der Seele entstehen, wenn man sich nicht mehr zurecht findet. Weil so viele fremde Menschen in der Umgebung sind, die nicht unsere Sprache sprechen. Unfriede entsteht, wenn der Druck an der Arbeit und die Angst so groß werden, dass man nicht mehr weiter weiß. Unfriede entsteht durch die Notwendigkeit, auch für die Alten sorgen und immer zu funktionieren, immer schneller. In einem beeindruckenden Sprechspiel stellten sich Pfarrer Johannes Thiemann, Ingrid und Albrecht Dapp, Wolfgang Schmid, Diakonin Gritli Lücking und Pastoralassistentin Juliane Vollmer an die Stelle von Menschen, die im ganz normalen Leben in Bedrängnis sind, im Privatleben, in der Bewältigung des Alltags. Und Ingrid Dapp schließlich fasste den Verzweiflungsschrei der Erde selbst, geschunden, abgeholzt, zubetoniert, in Menschenworte.
Die Bibelstellen von den Psalmen bis zur Bergpredigt handelten nicht nur vom Krieg im wörtlichen Sinn, sondern stehen auch für unbezahlbare Mieten, zuviel Druck, ein Fremdheitsgefühl. Und sie verweisen auf die christliche Antwort: „Steck dein Schwert in die Scheide.“