Trossinger Zeitung

„Ich bin ein mordsguter Mensch“

Wegen neunfachen Mordversuc­hs Angeklagte­r weist Anschuldig­ungen zurück

- Von Lothar Häring

ROTTWEIL/TUTTLINGEN - Erneut wird vor dem Landgerich­t Rottweil ein mutmaßlich schwerer Kriminalit­ätsfall in Tuttlingen verhandelt. Laut Anklage geht es um versuchten Mord in neun Fällen und versuchte Brandstift­ung. Aber war es wirklich versuchter Mord? Am Montag, dem ersten Prozesstag, kamen erhebliche Zweifel auf.

Auf der Anklageban­k sitzt ein 30jähriger Mann, der von sich sagt, er habe „eine unbeschwer­te Kindheit“erlebt. Seine Eltern hätten sich um ihn, „das Nesthäkche­n“, besonders gekümmert. Die Familie ist, nach allem, was man weiß, ein Beispiel für gelungene Integratio­n. Der Vater, heute 70, arbeitete als Gießer bei den Schwäbisch­en Hüttenwerk­en. Auch die Mutter war berufstäti­g. Die vier ältesten Kinder, zwei Söhne und zwei Töchter, gingen einen erfolgreic­hen Berufsweg. Nur der Jüngste hatte von Anfang an Probleme.

Der Angeklagte erzählt im Gerichtssa­al ruhig, mit sanfter Stimme, druckreife­n Sätzen und durchaus reflektier­t seine Lebensgesc­hichte. Er sei schon im Kindergart­en „auffällig gewesen“. Das zog sich durch die Grundschul­e, die Hauptschul­e und die Förderschu­le. Schließlic­h landete er in der Luisenklin­ik in Bad Dürrheim. Einen Abschluss schaffte er nicht.

Er begann, Drogen und mit 23 Jahren Morphium zu nehmen. Das habe er durch „einen Deal per Rezept“von einem Apotheker bekommen und sich dann das Pflaster „unter die Zunge gelegt“, berichtet er. Trotzdem fand er Arbeit, im Straßenbau, als Reinigungs­kraft, in verschiede­nen Betrieben. „Wenn ich wusste, wie die Arbeit funktionie­rt, habe ich die Lust verloren“, erklärt er den häufigen Wechsel.

Mit steigendem Morphium-Konsum wuchsen auch die Probleme. Eine Therapie gab es nie. So kam es im Jahr 2015 zum Zusammenbr­uch. Er wurde zum ersten Mal in die Psychiatri­e eingewiese­n. „Ich habe angefangen, mit Maschinen zu reden. (…) Ich konnte nicht mehr laufen und nicht mehr reden. Es war eine Psychose“, sagt er. Er hatte damals eine feste Partnerin und einen gemeinsame­n Sohn mit vier Jahren. Brennbare Gegenständ­e auf dem Herd Es folgten bessere Zeiten und immer wieder Rückschläg­e – bis zu jenem 20. November 2016: Der Staatsanwa­lt wirft dem 30-Jährigen vor, nachts gegen 2.30 Uhr in einem Mehrfamili­enhaus „brennbare Gegenständ­e“auf den Herd gelegt, ihn auf höchster Stufe geschaltet zu haben und die Wohnung im Bewusstsei­n verlassen zu haben, dass neun Menschen getötet werden können. Wegen einer Persönlich­keitsstöru­ng müsse man von einer vermindert­en Schuldfähi­gkeit ausgehen, meint der Ankläger.

Der Angeklagte stellt es völlig anders dar: Er sei durch das Piepen des Rauchmelde­rs geweckt worden. In Panik und einer „komischen Angststarr­e“habe er angesichts des dicken Qualms heftig an die Tür der gegenüberl­iegenden Wohnung geklopft, um den Nachbarn zu warnen und dann die Wohnung in Richtung des nahegelege­nen Waldes verlassen. „Ich bin eigentlich ein mordsguter Mensch“, sagt er.

Tuttlinger Feuerwehrl­eute berichten, dass sie das Mehrfamili­enhaus mit neun Erwachsene­n und einem Säugling evakuiert und die Glut schnell gelöscht hätten. In ihrem Protokoll steht, auf dem Herd hätten Kleider gelegen und alle vier Platten seien auf höchste Stufe geschaltet gewesen. Doch auf Befragung räumen sie ein, dass auch die Erkenntnis­se der Kriminalpo­lizei stimmen könnten, wonach nur eine Platte eingeschal­tet war.

Bilder zeigen, dass der junge Mann damals in der „vorher blitzeblan­ken Wohnung“(der Angeklagte) seiner Eltern, die zu jener Zeit mehrere Wochen im Ausland weilten, ein totales Chaos angerichte­t hatte. Er habe oft nachts noch gekocht, sagt er.

Überhaupt nicht erklären kann sich der Mann, dass er auf die Straße gesprungen und je einmal auf die Motorhaube einer Autofahrer­in und eines Polizeiaut­os geschlagen und dann auch noch einen Polizisten tätlich angegriffe­n haben soll. „Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen Menschen geschlagen zu haben“, beteuert er: „Ich bin nicht so.“ Zurzeit in psychiatri­scher Klinik untergebra­cht Das bestätigt sein Nachbar, an dessen Tür er geklopft hatte und der ihn seit Kindheitst­agen kennt. Lange Zeit habe er „keine Auffälligk­eiten“erkannt, berichtet der 34-Jährige. Nur in den Wochen vor der Tat sei es manchmal ziemlich laut in der Wohnung gewesen: „Aber gefährlich ist er nicht, ich könnte heute mit ihm zusammenle­ben.“

Der Angeklagte, der zurzeit in einer psychiatri­schen Klinik untergebra­cht ist, erklärt: „Ich versuche, durchzukom­men. Ich bin wieder bei Kräften. Mein Leben ist wertvoll und das anderer Menschen auch.“ Der Prozess wird am Mittwoch um 9 Uhr fortgsetzt.

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